October Daye: Nachtmahr (German Edition)
verstehen, was er sagt?«
Ihr befremdlicher Gesichtsausdruck verschwand für einen Augenblick und wich ehrlicher Verblüffung. »Ja, natürlich, wusstest du das nicht?«
»Äh, nein, das wusste ich nicht.«
»Du bist doch auch nicht überrascht, wenn Tybalt mit den Katzen spricht, oder?«
»Nein, er ist ja ihr König.« Tybalts Status brachte es mit sich, dass er wahrscheinlich tägliche Rapporte über mein Befinden und Treiben einholen konnte, einfach indem er bei meiner Wohnung vorbeikam und sich kurz mit Cagney und Lacey unterhielt. Ich versuchte immer, nicht allzu genau darüber nachzudenken.
»Nach genau dieser Logik sollte es dich nicht wundern, dass ich mit meinen Rosen sprechen kann.« Sie sah Spike wieder an, und die Dunkelheit kehrte in ihre Züge zurück, als sie sagte: »Obwohl es Zeiten gibt, wo ich wünschte, dass sie weniger zu sagen hätten.«
»Luna.« Sylvester lehnte sich hinüber und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Bitte.«
Sie seufzte tief, schien den Klang aus der tiefen Mitte ihres Seins zu ziehen. »Ich will nicht«, sagte sie.
»Ich weiß.« Er wandte sich an mich. »Toby?«
Ich erkenne ein Stichwort, wenn ich eins höre. Rasch atmete ich tief durch und sagte: »Stacy Brown hat mich heute Morgen angerufen. Zwei ihrer Kinder sind etwa seit der Morgendämmerung verschwunden.«
»Wie alt waren sie?«, fragte Luna. Es lag keinerlei Überraschung in ihrer Stimme, nur Sorge.
»Jessica ist sechs, und Andy ist gestern vier geworden.«
»Das ideale Alter«, sagte Luna und schloss die Augen. »Wie viele noch?«
»Fünf Kinder von Tybalts Hof«, sagte ich langsam. »Und Quentins Freundin Katie wird auch vermisst, aber ich bin noch nicht sicher, ob es da einen Zusammenhang gibt oder nicht. Sie ist eine Sterbliche.«
Lunas Antwort war ein bitteres Lachen. Kopfschüttelnd sagte sie: »Oh, nein. Sie ist der Beweis. Ohne sie könnte das hier immer noch etwas anderes sein, als es ist. Also, mindestens acht in einer einzigen Nacht, und zwei weitere Nächte liegen noch vor uns. Wie viele haben bis jetzt noch nicht um Hilfe gerufen? Immer werden sie kurz vor Sonnenaufgang geholt. So bleibt am meisten Zeit, bevor Alarm geschlagen wird.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr überhaupt redet«, sagte ich. Das änderte aber leider nichts daran, dass ihre Worte mir schreckliche Angst machten.
»Oh, das wirst du noch früh genug erfahren. Gibt es noch mehr?«
»Mitchs und Stacys mittlere Tochter Karen. Sie ist elf. Sie ist nicht weg, aber sie will nicht aufwachen, egal was wir tun. Lily hat sie jetzt in ihrer Obhut.«
»Das sollte vorerst das Richtige sein.« Spike rasselte wieder mit den Dornen und zirpte. Luna sah auf ihn hinunter und runzelte die Stirn. »Wirklich?« Ihre Aufmerksamkeit schwenkte wieder zu mir. »Wann ist sie aufgetaucht?«
Irgendwie wusste ich sofort, von welcher »sie« Luna sprach. »Kurz vor Sonnenaufgang.«
»Wer?«, fragte Sylvester.
Ich seufzte und blickte auf mein angegessenes Kuchenstück. »Mein Holing.«
Schweigen legte sich zwischen uns, nur durchbrochen vom Klang raschelnder Blätter im Wind. Sogar Spike hatte aufgehört zu rasseln. Als die Stille zu drückend wurde, hob ich den Kopf und sah direkt in Sylvesters Augen.
»Wirklich?«, fragte er mit einer bedrohlich sanften Stimme.
»Wirklich«, sagte ich und schluckte. Ich zwang mich zu lächeln und fügte hinzu: »Sie sagte, ihr Name sei May.«
»October … «
»Ihr Holing kam, als er die Kinder aus ihren Betten nahm wie ein Bauer, der die Äpfel von seinem Baum pflückt«, sagte Luna. Sylvester warf den Kopf herum und starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen. Ihr Ausdruck war mehr als ernst: Er war tieftraurig und verängstigt und verletzt, alles in einem. »Er reitet wieder, Sylvester. Er reitet wieder, und sie wird ihm folgen müssen.«
»Amandine – «
»Ist nicht da«, sagte Luna leise. »War lange nicht da. Wird in nächster Zeit nicht hier sein. Diese Samen sind auf dürren Boden gefallen, und du weißt das. Also, wirst du ihn nun von unseren Toren fernhalten und mich ihr erklären lassen, was sie wissen muss?«
Sylvesters Miene verhärtete sich. Der Blick, den er Luna zuwarf, war kälter als irgendeiner, den ich ihn jemals auf sie richten sah. Er stand auf, kam zu mir, zog mich auf die Füße und umarmte mich. Er drückte mich so fest, dass ich beinahe nicht gespürt hätte, wie er zitterte. Dann ließ er mich los und stapfte ohne ein weiteres Wort den Gartenpfad
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