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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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dass der Zauber nur auf Blind Michaels Jäger ansprach, und ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich wirbelte herum, schoss über die Lichtung zu einem halb verrotteten hohlen Baum, ging auf alle viere und kroch unten hinein. Es ging überraschend einfach, ich hatte vergessen, wie klein ich war. Dann wartete ich mit fast angehaltenem Atem, was als Nächstes passieren würde.
    Das Knacken wiederholte sich, gefolgt von leisem Rascheln, das allmählich zunahm. Ich blieb mucksmäuschenstill in meinem Versteck. Als direkt mir gegenüber eine Gestalt aus dem Wald trat, schaffte ich es, nicht zu schreien. Meine Kerze brannte weiterhin blau. Na, großartig. Entweder stellte wer immer das war keine Bedrohung dar, oder auf die Kerze als Frühwarnsystem war kein Verlass. Ich aber hatte nicht den kleinsten Hinweis darauf, welche der beiden Möglichkeiten zutraf. Reglos sah ich zu, wie das unbekannte Wesen näher kam.
    Es war lang, dünn und in einen knöchellangen Kapuzenumhang gehüllt, der die Umrisse weitgehend verbarg. Eine Laterne in seiner Hand tauchte die Lichtung in einen trüben weißen Schein. Die Gestalt glitt heran, blieb dann stehen und hob die Laterne auf Kopfhöhe. Die andere Hand hob sich zu einer heranwinkenden Geste. Ein Ast bog sich ihr entgegen und verharrte, als er die ausgestreckten Finger streifte.
    »Ah«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, so leise und trocken wie totes Laub im Wind. Trotzdem war sie unverkennbar weiblich. »Ich verstehe.« Sie ließ die Hand sinken und rieb die Finger aneinander. »Wir haben einen Gast.«
    Oh, Eiche und Esche. Ich verkroch mich tiefer in mein Versteck und beschirmte die Kerze mit der Hand, um das Licht zu verdecken. Ich verbrannte mir fast die Finger und war trotzdem nicht sicher, ob sie sie nicht sah.
    »Komm heraus«, rief sie. Sie ging langsam im Kreis und warf die Kapuze zurück. »Dies ist mein Wald. Komm heraus und lass dich sehen.« Laternenlicht fiel auf ihr Gesicht, als sie umherging, und machte sie deutlich sichtbar.
    Ihre Haut war narzissengelb. Ranken aus braunem und goldenem Haar schlängelten sich um ihre Wangen, so strähnig verfilzt, dass es fast aussah wie dünne Baumwurzeln. Sie krümmten und wanden sich unablässig, drehten sich zu Locken und Knoten. Ihre Augen waren lang und schmal und ganz und gar messingfarben, die Pupillen nur hauchdünne Silberlinien, deutlich im Licht zusammengezogen wie bei einer Katze oder einer Schlange. Noch nie hatte ich ein Geschöpf wie sie gesehen.
    Ich schauderte und wünschte, die Luidaeg wäre bei mir. Sie hätte gewusst, was zu tun war. Dieser Wunsch entbehrte nicht einer schmerzlichen Ironie: Ich war kein Kind, sah aber wie eins aus, und wünschte mir, die gefürchtete Meerhexe möge kommen und mich retten.
    Die Fremde runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als ich nicht erschien. »Ich weiß, dass du mich hören kannst, die Bäume haben dich gefühlt. Sie können mir nicht sagen, wo du bist, aber sie wissen, dass du da bist. Komm heraus, ehe du mich zornig machst.« Ihre Gesichtszüge waren edel und wohlgeformt mit einer scharf gebogenen Nase und einer etwas übergroßen Unterlippe. Doch sie war schön, oder jedenfalls schön gewesen: Eine üble Narbe zog sich von ihrem linken Auge bis zum Kinn und verzog ihren Mund zu einer düsteren Dauergrimasse. Es gibt nur eines, was Reinblütern solche Narben zufügen kann. Eisen.
    Und sie war eine Reinblüterin. Ich konnte die Reinheit ihres Blutes wie Feuer auf der Zunge schmecken, fast heiß genug, um mich regelrecht zu verbrennen. Was immer sie war, sie war stark. Stark genug, um vielleicht eine Erstgeborene zu sein. Die Luidaeg ist die einzige Erstgeborene, mit der ich je regelmäßigen Umgang hatte, und ihre Macht ist verborgen, äußerlich so gedämpft, dass ein gewöhnlicher Beobachter sie für menschlich halten kann. Die Macht dieser Frau dagegen war überhaupt nicht versteckt. Sie bestrahlte alles um sie herum, fast heller als das Licht der Laterne. Und doch war irgendetwas schnell genug und stark genug gewesen, ihr eine Narbe durchs Gesicht zu verpassen. Was immer das war, ich hoffte, es war nicht mit uns im Wald.
    Ich blieb in die zweifelhafte Sicherheit meines Verstecks gekauert und zitterte immer mehr. Mein Herzschlag hämmerte entsetzlich laut in meinen nervösen Ohren, und für einen irrationalen Moment fürchtete ich, er würde sie zu mir führen. Es war so laut. Wie konnte ihr das entgehen?
    Sie senkte die Laterne, und der Widerwille in

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