October Daye: Nachtmahr (German Edition)
ihrer Miene nahm zu. »Mein Name ist Acacia, und dies ist mein Wald«, sagte sie. »Wenn du Blind Michael suchst, geh zu den Bergen, wenn du mich suchst, komm jetzt heraus. Wenn du keinen von uns suchst, geh heim, auf dem Pfad deiner Wahl. Aber verbirg dich nicht auf meinem eigenen Gebiet vor mir, oder es geht nicht gut für dich aus, ganz gleich, wem oder was deine Suche auch gilt.« Sie hielt inne, wartete. Ich blieb stumm. »Nun gut. Sag nie, du habest keine Wahl gehabt.«
Die Äste bogen sich vor ihr zur Seite, um sie ungehindert durchzulassen, als sie sich abwandte und mit wallendem Umhang die Lichtung verließ. Ich hatte schon erlebt, dass Luna von ihren Rosen ähnlich behandelt wurde, aber nicht in diesem Maßstab. Diese Frau schien den ganzen Wald zu beherrschen.
Für eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, blieb ich zusammengekauert sitzen und lauschte in die Stille. Ihre Schritte waren verklungen, sie war weg. Zumindest hoffte ich das – sie konnte natürlich noch im Unterholz darauf lauern, dass ich herauskam. Warum hatte sie mich nicht gesehen? Der Wald gehorchte ihr offensichtlich, und meine Kerze war nicht sonderlich gut verborgen. Da sie Macht über die Bäume hatte, hätten die sie direkt zu mir führen müssen. Warum war das nicht geschehen?
Die Geräusche des Waldes kehrten langsam zurück, und ich fing wieder an, normal zu atmen. Vorsichtig entspannte ich meine verkrampften Gliedmaßen, steckte meinen Kopf aus dem hohlen Baum und sah mich auf der leeren Lichtung um. Wenn ich schnell rannte, konnte ich es bis zurück zur Ebene schaffen, bevor sie mich entdeckte. Die Bedrohung durch die Jäger hatte angesichts der Bedrohung im Wald etwas an Schrecken verloren. Sie würden mich bloß zu Blind Michael bringen. Diese Frau konnte alles Mögliche mit mir anstellen.
Etwas streifte mich an der Schulter. Ich fuhr zusammen und schaffte es irgendwie, nicht zu schreien. Wenn ich es nach Hause geschafft hatte – falls ich es nach Hause schaffte – , konnte ich mir den Luxus eines ausgedehnten, hemmungslosen hysterischen Anfalls leisten, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich atmete tief durch und fragte: »Wer ist da?«
Zur Abwechslung war das Glück auf meiner Seite. Eine ängstliche, bekannte Stimme antwortete leise: »Ich bin’s, Raj. Ich … der Wald ist sehr dunkel.«
»Ja, das ist wahr.« Ich schaute nach rechts und sah Raj an meinem Baum kauern, so klein, wie er sich nur machen konnte. »Wie bist du Acacia entwischt?«
»Der gelben Frau?« Er schnaubte mit wiedergefundener Arroganz. »Sie hat die Bäume nach Eindringlingen gefragt, aber nicht nach Tieren, also haben sie mich nicht erwähnt. Bäume sind nicht besonders schlau.«
»Clever.« Das meinte ich ernst. Als ich vierzehn war, dachte ich noch, Bäume seien Dinger zum Hochklettern, keine Wesen, die man hinters Licht führen kann. »Warum bist du zu mir zurückgekommen?«
»Ihretwegen.« Ich sah ihn verdutzt an, und er erläuterte: »Sie hat dich gesucht. Ich glaube kaum, dass sie dich gesucht hätte, wenn du für ihn arbeiten würdest.« Er machte eine Pause. Es war kein Vertrauen in seinen Augen, aber da war etwas anderes: ein erstes Aufflackern von Hoffnung. »Bist du wirklich die October, die mein Onkel Tybalt kennt?«
Ich seufzte. »Ja, das bin ich.«
Raj runzelte die Stirn. »Mein Vater hat gesagt, Onkel Tybalts Freundin sei erwachsen.« Er machte wieder eine Pause. »Und ein Luder.«
»Normalerweise bin ich das. Erwachsen, kein Luder.« Ein Luder? Was zum Henker erzählte Tybalt seinem Hof über mich? Der König der Katzen und ich hatten wohl ein ernstes Gespräch vor uns, wenn ich meinen Körper wiederhatte.
»Aber du bist jünger als ich!«
»Dank der Luidaeg«, sagte ich. Raj zuckte bei der Erwähnung ihres Namens zusammen. Leiser sagte ich: »Dein Onkel hat mich gebeten, dich und die anderen hier rauszuholen, und die Luidaeg hat mich verzaubert, um es möglich zu machen.«
»Du hast dich von der Meerhexe verzaubern lassen?« Sein Argwohn schwand, überwältigt von Angst und Ehrfurcht. »Und du hast es überlebt?«
»Vielleicht tötet sie mich noch, aber nicht heute. Erst mal hole ich euch hier raus.«
»Wie?«
Gute Frage. Wir hockten inmitten eines verwunschenen Waldes, mit nichts als einem hohlen Baum als Versteck, und ich hatte immer noch keine Ahnung, wo die anderen Kinder steckten. Und da wir gerade dabei waren, ich wusste auch nicht, wie ich sie eigentlich rausbringen sollte, wenn wir sie
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