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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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gefunden hatten. Alles, was ich hatte, war ein Messer, das zu groß für meine Hände war, eine Kerze, die ich nicht aus der Hand zu legen wagte, und einen halbwüchsigen Cait Sidhe, der zwischen Arroganz und Verängstigung schwankte. Es hatte Zeiten gegeben, da ich mit weniger klarkommen musste, aber Wurzel und Zweig – man kann doch nicht beliebig oft auf ein Wunder vertrauen. Irgendwann landet man doch mal ganz unsanft in der Wirklichkeit.
    Nicht dass mir etwas anderes übrig blieb. Es war wieder einmal Zeit, alles auf das Wunder zu setzen und zu würfeln.
    »Ihr seid doch den Jägern einmal entkommen«, sagte ich. »Wie habt ihr das geschafft?«
    »Das war Helen«, sagte er und klang beschämt. Natürlich schämte er sich, kein Junge seines Alters mochte gern zugeben, dass er von einem Mädchen gerettet werden musste. »Sie hat einen Weg aus dem Loch gefunden, in das wir eingesperrt waren. Keiner von den anderen wollte ihr folgen. Aber ich … «
    »Du fandest es einen Versuch wert.«
    »Ich dachte, ich könnte den Pfad finden, auf dem sie uns hergebracht haben.« Er sah zu Boden. »Ich dachte, ich bringe uns hier raus, und dann kommt Onkel Tybalt, und wir vernichten sie.«
    »Wie weit seid ihr gekommen?«, hakte ich nach. Ich tat es nur ungern. Seine Haltung verriet, dass er den Tränen nahe war, und wenn er die Beherrschung verlor, mochte er nutzlos werden. Aber mir blieb keine Wahl. Ich musste wissen, ob ich irgendeine Chance hatte, die anderen noch zu retten.
    »Ziemlich weit«, flüsterte er. Ich wartete, aber er sagte nichts mehr. Er hockte nur mit angelegten Ohren da und zitterte.
    Also gut. Ich erhob mich und bot ihm meine Hand. »Komm mit. Wir gehen jetzt.«
    »Wohin?«
    »Weg von hier.« Ich wusste noch nicht, wie ich ihn hier rausbringen sollte, ohne es mit Blind Michael zu tun zu bekommen, doch das konnte warten. Er brauchte noch dringender Bewegung als ich einen Plan.
    Er sah mich skeptisch an, dann glitt seine Hand in meine und bedeckte sie bis zum Handgelenk. Die Konsequenzen dessen, was die Luidaeg getan hatte, sickerten allmählich in mein Bewusstsein. Wie sollte ich meine Kinder retten und Blind Michael vernichten, wenn ich selbst ein Kind war? Raj betrachtete mich mit einer bangen Art von Vertrauen. Ich seufzte. Ob ich eine Chance hatte oder nicht, ich musste es versuchen. Ich hasse es, der leibhaftige letzte Ausweg zu sein.
    Wir brauchten länger, um uns unseren Weg aus dem Wald herauszubahnen, als wir hinein gebraucht hatten. Zweige schnappten nach unseren Kleidern, und Wurzeln wickelten sich um unsere Füße. Es war, als arbeiteten die Bäume bewusst gegen uns. Die Kerze brannte jedoch ruhig und blau. Ich fand heraus, dass ich gehen konnte, ohne zu stolpern, wenn ich in die Flamme statt auf die Umgebung schaute.
    »Du kommst hin und zurück mit der Kerze Licht«, murmelte ich.
    »Was?«, fragte Raj.
    »Nichts. Nur ein Vers.« Ein dünnes helleres Schimmern vor uns ließ die Grenze des Waldes ahnen. »Sieht so aus, als wären wir fast draußen.«
    Raj festigte seinen Griff um meine Hand. Er klammerte sich an mich, als wäre ich seine einzige Verbindung nach Hause. Vielleicht war ich das, er hatte ja nicht gerade viel Auswahl. »Was kommt als Nächstes?«
    »Weiß noch nicht.« Ich warf ihm einen beruhigend gemeinten Blick zu. »Aber ich lasse dich nicht im Stich.«
    Ich hasse es, wenn ich unwissentlich lüge.
    Wir traten hinaus ins offene Gelände, wandten uns in Richtung der Berge und begannen zu wandern. Nach einer Weile ließ Raj meine Hand los und ging ein, zwei Schritte vor mir her. Nichts störte uns, als wir über die dunkle Ebene zogen, weitab von jeder vernünftigen Deckung. Und es gab weit und breit kein Versteck, als die Flamme meiner Kerze plötzlich aufloderte und in einem grellen, wütenden Orange brannte.
    Und die Jäger kamen. Sie schossen aus dem Boden und hatten uns binnen Sekunden umstellt. Uns blieb keine Zeit zur Flucht und nichts, wohin wir fliehen konnten, wir konnten nur noch stehen bleiben und warten, dass sie uns ergriffen. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf Raj gerichtet, doch das würde bestimmt nicht so bleiben. Ich streckte die Hand aus und ergriff seine Schulter, auch wenn ich nicht wusste, was das nützen sollte. Es war reiner Instinkt. Ich nehme an, was als Nächstes geschah, war ebenfalls Instinkt. Auch ein Tiger in der Falle wird immer kämpfen.
    Raj sprang den nächsten Jäger an, verwandelte sich mitten in der Luft in Katzengestalt und zielte auf die Augen.

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