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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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die diesen Ort als Versteck nutzte. Jemand hatte drinnen die Zweige weggeschnitten und so einen Kriechtunnel freigelegt. Die Schnitte waren nicht frisch und der Boden frei von Spuren – wer immer dieses Versteck geschaffen hatte, war längere Zeit nicht mehr hier gewesen. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass die Sträucher auch gedreht worden waren, sodass sie in den äußeren Wall zurückwuchsen und den Schild aus Dornen nach außen dicker und sicherer machten. Niemand würde mich von der Ebene aus sehen können. Die wohlüberlegten Stutzungen sorgten dafür, dass der Tunnel sich selbst erhielt. Vermutlich konnte er auch ungenutzt für immer fortbestehen.
    Das überzeugte mich vollends. Geheime Plätze in Büschen und Gräben sind meist das Terrain von Kindern, und dieses Versteck war anscheinend von einem längst vergessenen Kind eingerichtet worden, das es geschafft hatte, der Jagd zu entkommen, wenigstens für eine Weile. Wenn das hier vergleichbar war mit den Schlupfwinkeln, die ich als Kind mit Stacy und Julie gehabt hatte, dann hatte kein Erwachsener es je zu Gesicht bekommen. Sie konnten direkt daran vorbeigehen und gar nicht merken, dass es da war. Ich kroch tiefer hinein und nahm mich vor den Dornen in Acht.
    Der Tunnel wand sich ins Innere, bis ich auf den Hauptstamm stieß, wo sich der Busch zu einer regelrechten Höhle ausweitete. Wer immer diesen Tunnel gehauen hatte, hatte auch eine flache Mulde in die weiche Erde gegraben und genug Platz geschaffen, dass eine kleine Person aufrecht zu sitzen vermochte. Aber jede mögliche Hoffnung auf einen Verbündeten zerschlug sich, als ich diesen Aushub sah. Denn so, wie die Dornen über den Rand vorgedrungen waren, war schon vor sehr langer Zeit verschwunden, wer immer dieses kleine Versteck erbaut hatte. Bloß ein weiteres Opfer in Blind Michaels Landen.
    Ich schlüpfte in die Mulde und lehnte mich an den Stamm, wo ich mich langsam entspannte. Ich brauchte nur eine kleine Pause und Zeit zum Nachdenken, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte. Ich hielt die Kerze weg von dem trockenen Holz um mich herum und schloss die Augen.
    Ich wollte nur ein paar Minuten ausruhen. Ich hatte nicht vor einzuschlafen. Das passierte ganz von selbst. Und ich träumte …
    Die Welt war blau und grau und feurig bernsteinfarben, eingeschlossen von Nebel, der sich nie ganz hob. Manchmal zog er sich in die Steine zurück, manchmal schwebte er zwischen den Bäumen, aber der Nebel selbst war ewig. Schmutzige Holzkohlelinien deuteten die Landschaft an, skizzierten die Umrisse endloser Ebenen, nur durchbrochen von Berggestein und sterbenden Wäldern.
    Sterbenden? Nein, lebenden. Der Nebel zog sich zurück, als ich mich näherte, und hinterließ einen Wald, den ich nicht kannte. Die Bäume waren gesund und voll im Saft, grün und golden und frühlingsgelb. Weiden standen Wache, streckten hungrige Wedel aus, um Eindringlinge zu greifen. Dies war Blind Michaels Land. Es hatte sich verändert, aber das Herz war dasselbe geblieben. Der Herzschlag des Landes …
    Der Herzschlag des Landes war nicht meiner. Wer war ich? Ich kämpfte darum, mich an meinen Namen zu erinnern, meine Aufgabe, alles. Der Nebel umschlang mich wie die Umarmung eines Liebenden, versuchte mich näher zu ziehen, nahm mich weiter und weiter in …
    »Tante Birdie?«
    Ich kannte diese Stimme, und weil ich sie kannte, musste ich auch mich kennen. Das eine verlangte das andere. Ich schüttelte den Nebel ab und drehte mich um. »Karen?«
    Sie stand in den Bäumen und trug immer noch die Robe, die sie von Lily bekommen hatte. Gelbe und braune Butterblumen waren in ihr Haar geflochten. Sie sah verängstigt aus. »Es ist gefährlich, hier zu träumen, Tante Birdie. Das solltest du nicht. Er weiß es, wenn du das tust.«
    »Schatz, du bist ja wach!« Ich wollte auf sie zueilen. Der Boden saugte an meinen Füßen, aber ich wand mich frei und ging weiter. »Wir müssen dich hier rausbringen. Hier ist es nicht sicher … .«
    »Ich weiß, Tante Birdie«, sagte sie, trat zur Seite und gab den Blick auf ein kleines Mädchen frei, das zerknautscht an der Wurzel der nächsten Weide lag. »Das war es nie.«
    Das kleine Mädchen konnte nicht älter als zehn sein. Sie trug ein zerfetztes Nachthemd, die Füße waren nackt und blutig. Sie war offensichtlich japanischer Abstammung, rappeldürr und völlig ausgezehrt. Ihr langes schwarzes Haar war am Ansatz ihres Nackens geknotet. Tränen hatten Streifen durch den Dreck in ihrem Gesicht

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