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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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lebten wir in seinen Hallen, ich erinnere mich noch daran. Doch die Verhältnisse änderten sich. Ihre Liebe starb. Die Sonne ging nicht mehr auf. Dann war es zu spät für uns, um sein Reich zu verlassen – meine Geschwister waren fort, in alle Welt verstreut, und konnten uns nicht mehr aufnehmen –, also flohen Mutter und ich in den Wald. Die Bäume waren stark, weil Mutter stark war, und die Rosen waren kräftig, weil ich da war. Damals sah ich oft, wie die Jäger auf der Suche nach Kindern die Moore durchstreiften … auf der Suche nach mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Teil von dem, wonach er unablässig sucht. Sein verlorenes kleines Mädchen. Und ich gehe nicht zurück, niemals.«
    »Wie seid Ihr entkommen?«
    »Ich bin geflohen. So entkommt man nun mal. Man flieht. Man nimmt den erstbesten Weg, der sich auftut, und flüchtet, bis man entkommen ist. Die Methode ist dabei nicht von Bedeutung.«
    »Manchmal doch.«
    »Nein, sie zählt nicht.« Ihre Miene verriet nichts, aber ihr Tonfall … sie bettelte förmlich, und ich hatte keine Ahnung, worum sie bettelte. »Bitte, October, glaub mir. Das Wie zählt nicht.«
    Ich sah sie an. Es gab hundert Fragen, die ich ihr stellen wollte, aber die Jahre unserer Bekanntschaft rieten mir, es auf sich beruhen zu lassen. Warum sollte es mich kümmern, woher sie kam? Sie war meine Freundin und Lehnsherrin, und Sylvester liebte sie. Und sie hatte mich in den Tod geschickt.
    Es gab Gründe, zu fragen. Es gab auch Gründe, Frieden zu halten. Antworten schmecken oft bitter, und wenn man sie erhalten hat, haften sie einem an, man kann sie nicht einfach zurückgeben. War mein Wissensdrang so groß, dass ich willens war, mit ihrer Antwort zu leben, wie immer sie auch ausfiel?
    Nein. Das wollte ich nicht. Ich schluckte mühsam und sagte das Erste, was mir in den Sinn kam: »Tja, ich schätze, das erklärt auch Raysel.«
    »Ja, so ist es. Blut setzt sich durch. Ich habe versucht, mir einzureden, dass es anders sein kann, dass wir uns ändern können, aber Blut setzt sich immer durch. Wir alle tragen die Bürde unserer Eltern.« Sie seufzte, dann streckte sie mit einer anmutigen, gebieterischen Bewegung die Hand aus. »Meine Rose, bitte.«
    Ich war kurz versucht, es ihr abzuschlagen. Dann sah ich den Ausdruck in ihren Augen, ein Ausdruck tiefsten Grams und bitterster Verzweiflung, und wortlos reichte ich ihr die Rose. Sie legte die Finger um den Stiel, stieß einen schweren, bis ins Mark erschöpften Seufzer aus und schloss die Augen, dann flüsterte sie: »Hallo, Mutter.«
    Die Rose begann zu leuchten wie ein Stern am Nachthimmel, heller und heller, bis alles außer Luna und der Rose verschwamm. Es gab einen Blitz aus schwarzem und silbrigem Licht, das an den Rändern rosa glühte wie ein Sonnenuntergang, und Luna verschwand. An ihrer Stelle stand jemand, den ich nicht kannte.
    Sie war größer als Luna, mit marmorweißer Haut und endlos langem Haar, das von Blassrosa an den Wurzeln bis zu Schwarzrot an den Spitzen changierte. Es fiel ihr bis über die Knie und verflocht sich mit dem Gürtel aus Dornenhecke, der ihr heidegrünes Gewand zusammenhielt. Sie sah wie nichts aus, was ich je gesehen hatte, und mein Herz tat davon weh, bis ich vor ihr zurückwich und abwehrend die Hände ausstreckte, als hoffte ich, dass ich sie wegstoßen könnte. Sie war wunderschön, aber mir völlig fremd.
    »Mutter, bitte … «, flüsterte sie. Ihre Stimme war noch die von Luna.
    Ich biss mir auf die Lippe. »Luna?«
    Die Rosenfrau schlug die Augen auf. Sie waren blassgelb wie Blütenstaub. Und dann war sie verschwunden, und Luna stand an ihrer Stelle. Ihre Ohren waren flach an ihren Kopf gelegt, und ihre Schwänze schlugen wild. Blut lief an ihren Fingern herab, wo die stacheligen Dornen der Rose ihre Haut durchstoßen hatten. Sie waren so lang und höllisch spitz, dass ich mich fragte, wie ich hatte unversehrt bleiben können.
    Doch das war leicht zu beantworten: Die Dornen waren gar nicht da gewesen, als ich die Rose hielt, denn sie war nicht für mich bestimmt. »Luna – «
    »Sie wollte mich nicht verletzen.« Sie schritt zur nächsten Vase und steckte die blutige Rose behutsam und ungeheuer liebevoll zwischen die gewöhnlicheren Blumen. »Sie vergisst nur manchmal, was ich heutzutage bin.«
    »Was seid Ihr?« Ich konnte ihr Blut in der Luft schmecken, doch es verriet mir nichts, was ich zu deuten vermochte. Ihr Erbe war nicht Kitsune. Es war überhaupt nichts, was ich kannte.
    Sie

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