October Daye: Winterfluch (German Edition)
zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass Gesicht und Hals frei lagen. Die dunklen Ringe unter den Augen waren verschwunden. Meine Haut wirkte glatt und wies nicht einmal Blutergüsse auf. Ich sah zwar nach wie vor wie eine aufgewärmte Leiche aus, mittlerweile allerdings wie eine wesentlich frischere.
Narbengewebe prangte genau dort an meiner Schulter, wo ich die Schussverletzung erwartet hatte. Schmerzen verspürte ich nicht. Langsam zog ich das Nachthemd hoch und entblößte mein rechtes Bein bis zur Hüfte. Das Loch, das die Kugel in meinen Oberschenkel gerissen hatte, war auf dieselbe Weise verheilt. Kein Wunder, dass ich laufen konnte: Meinen Beinen fehlte nichts. Irgendwie war es Devin gelungen, mich restlos zusammenzuflicken, während ich weggetreten war.
Natürlich musste ich Narben haben. Keine Magie der Welt vermag, Eisenwunden zu heilen, ohne Narben zu hinterlassen.
Erstaunt stellte ich noch etwas fest, das sich verändert hatte: Mein Kopf war klar. Was immer die Schussverletzungen auch geheilt hatte, es musste auch die Eisenvergiftung besiegt haben. Ich hatte nicht geglaubt, dass so etwas möglich sei. Wie konnte das sein?
Der Geschmack von Rosen kitzelte mich in der Kehle. Ich verkrampfte mich. »Oh nein, nicht jetz t … «
Mehr Zeit blieb mir nicht. Evenings Bindung schwappte wie eine Welle über mich hinweg, gestärkt durch die Rückkehr meiner Gesundheit und übermotiviert durch meine zwangsläufige Untätigkeit. Erinnerungen an ihren Tod stürmten auf mich ein, verhüllten den Raum mit einem roten Schleier. Mein Blut geriet in Wallung, stürzte den Erinnerungen Hals über Kopf entgegen, ohne mir Zeit zu lassen, mich zu wappnen. Was war ich doch töricht gewesen zu glauben, ich könnte wie eine Daoine Sidhe handeln, ohne den Preis dafür zu entrichten. Es war immer ein Preis zu bezahlen. Die Pixies, der Schlüssel, die Schüsse, das Blut, der Schre i – all das steckte in den Rosen, wartete auf mich, zerrte mich nach unten. Alles war doch dasselbe, war es immer gewesen und würde es immer sein. Der Tod ändert sich nicht. Der Tod ändert sich nie.
Diesmal gestaltete es sich noch schwieriger, mich loszureißen, bevor mich die Erinnerungen bis in Evenings Grab ziehen konnten. Mein Blut war mit Eisen in Berührung geraten, obendrein erst kürzlich. Es erinnerte sich nicht nur daran, wie es sich anfühlte, durch Eisen zu sterbe n … es wusste es.
Lass mich los , dachte ich. Wenn ich hier und jetzt sterbe, verlierst du auch. Lass mich also lo s …
Mit einem Ruck kehrte ich in meinen Körper zurück und stellte fest, dass ich mich am Rand des Spülbeckens festklammerte und über dem Boden würgte. Ich konnte mich weder daran erinnern, auf die Knie gesunken zu sein, noch an sonst etwas, das nach dem Erscheinen der Rosen geschehen war. Die Welt drehte sich so heftig, dass meine Brust und mein Magen schmerzten.
Stöhnend lehnte ich den Kopf an das Spülbecken. Die Bindung würde dafür sorgen, dass ich in Bewegung blieb, das war mir klar; etwas Derartiges lässt nie lange zu, dass man stillhält. Allerdings war mir nicht bewusst gewesen, wie weit der Fluch gehen würde, um mich zu motivieren.
Zumindest teilweise war es meine Schuld. Die Erinnerungen, die ich Evenings Blut entnommen hatte, stärkten die Bindung, wickelten sie um mich, bis es keinen Ausweg mehr gab. Sie hätte mich auch dann angetrieben und mir zugesetzt, wenn ich nicht in ihrem Blut gelesen hätte. Sie hätte mich sogar getötet, aber sie hätte Evenings Tod nicht gegen mich verwendet. Und die Bindung wurde stärker. Letztlich würde sie so stark werden, dass ich nicht mehr in der Lage sein würde, dagegen anzukämpfen, und sie würde mich zwingen, die Erinnerungen an die Augenblicke, in denen Evening starb, so lange weiter zu erleben, bis mein Herz aussetzte.
Wahrscheinlich hatte sie nicht beabsichtigt, dass es so sein sollte, aber zum Leidwesen für uns beide hatte sie wie das gedacht, was sie war: ein Reinblut. Ein Reinblut hätte ohne Schwierigkeiten in ihrem Blut lesen, die gewünschten Informationen erhalten und den Rest abschütteln können. Evening hatte in den Kategorien gedacht, die sie kannte, aber ich war ein Wechselbalg, und meine Magie war nicht so stark. Ihre Bindung aber war zu mächtig, als dass ich sie ewig abwehren könnte. Und wie gesagt, sie wurde noch stärker.
Ich steckte in ernsten Schwierigkeiten.
Hinter mir öffnete sich die Tür. Ich rührte mich nicht, ließ die Augen geschlossen und
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