October Daye: Winterfluch (German Edition)
versuchte, meine Atmung zu beruhigen. Alles, was mich töten wollte, musste an Devin und seinen Kindern vorbei, und wären sie bereits überwunden, hätte es ohnehin keinen Sinn mehr gehabt zu flüchten. Den Kopf an das Waschbecken gelehnt zu lassen schien mir dagegen eine viel bessere Idee zu sein. So bestand zumindest die Aussicht darauf, dass ich sterben würde, ohne mich erneut übergeben zu müssen.
Zögernde Schritte überquerten den Boden und hielten etwa einen Meter entfernt inne. »Ja?«, fragte ich, ohne den Kopf vom Waschbecken zu lösen. Es war ein hübsches Waschbecken. Nun ja, eigentlich war es ein dreckiges, ekliges Waschbecken, und ich wollte gar nicht an die Dinge denken, die den Abfluss verkrusteten, aber es bot mir immerhin etwas, wogegen ich meinen Kopf lehnen konnte, und nur das zählte für mich.
»Ms. Daye?« Es war Dare, die sich unbehaglich und etwas verängstigt anhörte. Ausnahmsweise konnte ich ihr keinen Vorwurf machen. Ich hatte ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich sie nicht mochte, und Devin drohte ihr vermutlich mit allerlei Garstigkeiten, wenn sie nicht gut mit mir auskäme oder mich zumindest am Leben erhielte. Das eine hatte noch nie zwangsläufig mit dem anderen einhergehen müssen, was gut war: Evening und ich hätten es nie geschafft, wenn wir dafür auch noch gut miteinander hätten auskommen müssen.
»Ja, Dare?«
Sie trat einen Schritt vor. Ihre Füße schlurften über das Linoleum. Ich hob den Kopf, um sie zu beobachten, versuchte jedoch nicht aufzustehen. So dumm war ich nicht.
»Geht es Ihnen gut, Ms. Daye?«
»Sicher«, gab ich zurück und senkte den Kopf wieder. »Ich kuschle gern mit Badezimmerarmaturen.«
»Sie sehen nicht aus, als ob es Ihnen gut ginge!«, meinte sie und kam ein paar weitere Schritte näher. Tapferes Mädchen. »Soll ich Devin holen?« Das bewies einen gewissen Mut ihrerseit s – Devins Kinder nannten ihn nie beim Namen, wenn jemand sie hören konnte.
»Mir wäre lieber, du lässt das bleiben.« Ich ließ von der beruhigenden Stabilität des Wachbeckens ab, rappelte mich auf und stützte mich mit einer Hand am Spiegel ab. Ich war bereit, mich aufzufangen, sollte ich fallen, was jedoch keineswegs bedeutete, dass mich die Möglichkeit mit Freude erfüllte. »Ich bin in Ordnung.«
Dare musterte mich argwöhnisch und erwiderte: »Sie sehen aber nicht so au s … «
»Also gut, neuer Versuch. Es geht mir im Augenblick besser, als es dir gehen wird, wenn du Devin rufst.« Ich lehnte mich gegen den Spiegel und versuchte wild dreinzuschauen. Es gibt günstigere Umstände dafür, einschüchternd zu erscheine n – jegliche Umstände zum Beispiel, unter denen ich kein tief ausgeschnittenes, violettes Nachthemd trage. »Ich finde, er ist schon besorgt genug, meinst du nicht?«
Die unausgesprochene Drohung schien sie zu entspannen. Man findet Trost in Dingen, die man kennt. Und was sie kannte, das war die chaotische und bisweilen gewalttätige Welt des Heims. »Soll ich Ihnen ein paar Minuten Zeit lassen, um sich zu sammeln?«
»Das wäre eine gute Idee, ja.« Ich schluckte, um den Geschmack von Rosen aus dem Mund zu bekommen. Doch es funktionierte nicht besonders gut. Ich hatte auch nicht damit gerechnet.
Dare zögerte und wiegte sich auf den Fersen vor und zurück, bevor sie die geweiteten Augen wieder auf mich richtete. Ich war dankbar, dass sie dabei mit dem Vor- und Zurückwiegen aufhört e – mit anzusehen, wie sie es in Stöckelschuhen tat, verursachte mir Schwindel. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Ms. Daye?«
»Klar«, gab ich mit einem Schulterzucken zurück. Sie könnte ohnehin jederzeit meine tiefsten, dunkelsten Geheimnisse erfahren, wenn sie sich Zugang zu Devins Akten verschaffte. Ich erwartete, dass sie etwas Vulgäres oder völlig Sinnloses fragen würde.
Doch sie überraschte mich. »Wie haben Sie Devin kennengelernt?«
»Devin?« Ich richtete mich auf und sah sie zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, richtig an. Sie wirkte angespannt, nervös, als wäre sie gerade dabei, ein heiliges, ungeschriebenes Gesetz zu brechen. Was ich nicht verstand. »Das war vor langer Zeit«, antwortete ich langsam.
»Erinnern Sie sich daran?«
Natürlich erinnere ich mich daran , dachte ich. Die Frage ist, warum interessiert es dich? »Ich habe ihn vor langer Zeit kennengelernt, als ich vo r … na, egal, wovor ich weglief. Jedenfalls versuchte ich, Orte zu meiden, wo mich die Menschen unter Umständen kannten, und
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