October Daye: Winterfluch (German Edition)
nein, sie haben nichts zerbrochen, was nicht bereits dieser Doppelgänger zerstört hatte. Dafür ist es ihnen gelungen, die Polizei davon zu überzeugen, wieder zu verschwinden.« Er grinste. »Offenbar hat sich jemand wegen Lärmbelästigung über dich beschwert.«
»Verstehe«, sagte ich. »Ich gehe mich jetzt mal anziehen.«
»Schade.«
»Trottel.«
»Genau.«
Ich grinste und fühlte mich so gut wie seit Monaten nicht mehr, als ich das Büro verließ und in die Toilette zurückkehrte.
Sich in einer öffentlichen Toilette umzuziehen ist eine durchaus erlernbare Fähigkeit, die aber zu einer Kunstform wird, wenn der Toilettenboden seit einem Jahrzehnt oder mehr nicht mehr geschrubbt wurde. Einige der Flecken erkannte ich sogar wieder. Dennoch gestaltete es sich nicht schwierig, aus dem Nachthemd und in die Jeans zu schlüpfen. Sobald ich richtige Kleider trug, fühlte ich mich besser. Als Panzerung waren sie nicht besonders gut, aber sie waren alles, was ich hatte.
Ich steckte die Hände in die Taschen der Hose, um sie zurechtzuzupfen, und hielt inne, als meine Finger Metall berührten. Ich schloss die Hand darum und zog den Schlüssel heraus, den ich von dem Rosenkobold bekommen hatte. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Hatte er nicht in meiner anderen Jeans gesteckt? Derjenigen, die ich dadurch ruiniert hatte, dass ich darin fast ausgeblutet wäre?
Der Schlüssel glitzerte in meiner Hand und nahm kurz einen Hauch seiner früheren Helligkeit an. Evenings letzte Erinnerungen hatten mir verraten, dass es sich um den Schlüssel für Goldengrün handelte; er musste also unbedingt sicher verwahrt werden. Ein kurzes Aufflackern der Bluterinnerungen setzte ein und flüsterte mir zu, dass »sicher« gleichbedeutend mit »geheim« sei. Ich steckte den Schlüssel zurück in die Tasche und vergewisserte mich, dass er dort auch gut verborgen war, bevor ich das geliehene Nachthemd in die Plastiktüte stopfte. Es war ein magischer Schlüssel. Vielleicht gab es ja noch etwas, das ich aufschließen musste.
Als ich ins Büro zurückkehrte, warteten dort Manuel und Dare. Das Mädchen hatte sich eine schwere Jeansjacke gesucht, die metallisch schepperte, wenn sie sich bewegte. In Anbetracht dessen, wie viele Messer sie schon ohne die Jacke zu verstecken gewusst hatte, beschloss ich, sie lieber gar nicht erst danach zu fragen. Damit und mit dem Minirock, den Stöckelschuhen und dem Top, das den Bauch frei ließ und von einem »Pornostar in Ausbildung« zeugte, hatte sie auf den Titel der Miss Subtil der USA wenig Chancen.
Manuel dagegen war dezenter gekleidet. Er hatte über den Pullover und die Jogginghose eine Windjacke angezogen, die gerade lose genug hing, um anzudeuten, dass er etwas darunter tragen könnte, ohne zu plärren: »He, ich bin bewaffnet!« Viel besser als die Aufmachung seiner Schwester war es nicht, aber man arbeitet eben mit dem, was man hat.
Ich ging an den beiden vorbei und ließ die Tüte auf Devins Schreibtisch fallen. »Gute Arbeit übrigen s – das mit den Klamotten.«
»Kein Problem. Hier, fang!« Devin warf mir einen Schlüsselbund zu.
Reflexartig fing ich ihn auf und runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»Hattest du vor, nach Goldengrün zu laufen ?«
»Oh nein«, stieß ich hervor, als mir eine Erkenntnis dämmerte. »Mein Wagen ist noch in der Gegend der Brücke.«
»Nein, dein Auto wurde abgeschleppt oder gestohlen. Oder beides. Du nimmst eins von meinen.«
»Devin, das kann ich nich t … «
»Du bezahlst ja dafür, schon vergessen?« Er zwinkerte mir zu. »Keine Sorge. Für einen fairen Handel ich bin immer offen.«
»Gut.« Ohne darauf zu achten, dass uns die Teenager beobachteten, beugte ich mich vor, um ihn erneut zu küssen, bevor ich auf die Tür zusteuerte. »Kommt, Leute. Lasst uns das Auto nehmen.«
»Wenn du bis zum Einbruch der Nacht nicht angerufen hast, schicke ich Hilfe«, rief mir Devin noch hinterher.
»Gute Idee«, sagte ich dazu und verließ das Büro. Die Teenager folgten mir.
An der Vordertür hielt ich inne und sagte: »Tarnungen aktivieren.« Die Luft erfüllte sich mit unserer Magie. Der durchdringende Geruch meines Kupfers vermischte sich mit jenem von Dares Äpfeln und Manuels Zimt. Bald darauf waren die Banne gewoben, und drei gewöhnlich aussehende Menschen traten in den Nachmittag des späten Dezembers hinaus.
Manuel schwieg, bis wir uns draußen befanden, dann fragte er leise: »Wohin gehen wir?«
Man konnte sich darauf verlassen, dass Devins Kinder
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