October Daye: Winterfluch (German Edition)
in seinem unangebrachten Vertrauen. Ein Teil von mir hatte das Bedürfnis, ihn wachzurütteln, der Rest hingegen wollte ihn in Watte packen und an einem Ort verstecken, wo ihm die Welt dieses Vertrauen niemals rauben könnte. Die Welt ist kein freundlicher Or t – da kann man einfach jeden fragen. Evening zum Beispiel.
»Das hätte nichts geholfen«, gab ich zurück und hasste mich für diese Worte, aber ich war nicht bereit, ihn zu belügen, nicht einmal durch Schweigen. Nicht in dieser Angelegenheit. »Wir hätten sie nicht retten können.«
»Wir hätten sie am Leben erhalten, zu irgendjemandem bringen könne n … «
»Sie wurde mit Eisen getötet.«
Er erstarrte. »Eisen?«
»Ja, Eisen. Wir hätten nichts tun können.« Das Geräusch der Tür, die sich öffnete, ersparte mir seine Antwort, und ich drehte mich um, schmerzlich froh über die Ablenkung. Vielleicht würde er eines Tages erwachsen werden. Aber das bedeutete nicht, dass ich ihm dabei zusehen musste.
Dare stand im Türrahmen und bemühte sich, dreist und unbekümmert zu wirken. Es misslang ihr aber kläglich. Die Wirkung wurde wohl von den roten Striemen auf ihrer Wange zunichte gemacht, die um die Ränder bereits zu dem blauen Fleck dunkelten, der daraus werden würde. »Der Boss sagt, er empfängt Sie jetzt, aber Sie sollen sich besser beeilen, wenn Sie wollen, dass er auf Sie wartet.« In ihren Augen lag ein panischer Ausdruck. Das waren Devins Worte gewesen, nicht ihre, und sie rechnete damit, diejenige zu sein, die dafür bestraft werden würde. Der alte Mistkerl änderte sich wohl nie.
Vielleicht habe ich ihn deshalb so lange geliebt.
»Großartig«, gab ich zurück, stand auf und trat an ihr vorbei in den hinteren Flur. Die Tür schwang hinter mir zu, allerdings nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ich hörte, wie Manuel zu weinen begann. Verdammt.
Letztlich hätte er es ja doch erfahren: Wenn er Evenings Bauer gewesen war, würde demnächst jemand anderer auftauchen, der sich ihn schnappte und im großen Schachspiel der Gesellschaft von Faerie weiter benutzte. Jede Figur, und mag sie noch so klein sein, ist zu wertvoll, um sie so einfach ziehen zu lassen. Hoffnung fällt in Faerie nicht immer leicht, aber ich wünschte ihm an Hoffnung, was immer ich konnte – nämlich, dass er auf die eigenen Beine finden möge, bevor die Welt ihn fände, und dass sein neuer Meister so gutherzig sein möge, wie es seine alte Meisterin gewesen war. Evening war vieles gewesen, aber niemals grausam, auch nicht zu ihren Handlangern. Ihre Hände hatten meine Fäden stets sanft geführt.
Kapitel 7
I m Flur stank es durchdringend nach schalem Zigarettenrauch, zerfledderte Konzertposter übersäten die Wände. Die in unregelmäßigen Abständen angebrachten Lampen lösten die Dunkelheit nicht auf, sondern drängten sie lediglich in die Winkel zurück. Zusammengenommen sorgten das trübe Licht und die niedrige Decke dafür, dass selbst Fae-Augen Mühe hatten zu sehen, was sich auf dem Boden befand. Ich trat auf etwas, das unter meinem Absatz schmatzte, und verzog das Gesicht. Vielleicht war die eingeschränkte Sicht gar nicht so übel.
Nur eine der vier Türen im Flur war beschriftet. Die Türen zur Linken führten zu den Toiletten, während sich hinter der ersten Tür rechts der Besenschrank verbarg. Abgesehen von der Lage glichen die drei einander, und es war immer lustig zu beobachten, wie ein neues Kind herauszufinden versuchte, welche es brauchte. Einige verwechselten sie immer, aber so ist das nun mal im Leben; man öffnet willkürlich eine Tür, natürlich in der Hoffnung, dass es die gewünschte ist, besonders dann, wenn man ein Geschäft zu erledigen hat, das nicht warten kann.
An der vierten Tür befand sich ein Schild, das sie jenen zuliebe kennzeichnete, die sich nicht ganz so abenteuerlustig fühlten, oder vielleicht auch für jene, die ein gefährlicheres Spiel versuchen wollten. Es handelte sich um ein ausgefranstes Stück Karton, auf das mit schwarzem Filzstift das Wort »Heimleiter« gekritzelt worden war. Darunter hatte jemand mit einem Buntstift »ist ein echter Mistkerl« geschrieben. Beide Aussagen trafen auf ihre Weise zu: Devin hatte das Kommando, und er war jemand, den man nicht gegen sich aufbringen wollte. Sein Temperament war legendär, und er gewährte selten eine zweite Chance. Zudem war er der erste Mann gewesen, den ich geliebt hatte, und nun, da ich zurück im Heim war, wurde mir allmählich klar, wie sehr er mir
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