October Daye: Winterfluch (German Edition)
trotz allem, was wir einander angetan hatten, immer noch fehlte. Ich hätte ihn aufsuchen sollen, bevor Blut zwischen uns stand und mich zum Handeln zwang. Vielleicht wären wir beide glücklicher geworden, wenn ich es getan hätte. Die Augen auf das Schild gerichtet, hob ich die Hand und klopfte.
»Herein«, rief Devin mit jenem vollen, melodischen Tenor, der Teenagermädchen so sehr ins Schwärmen geraten lässt. Natürlich kannte ich das, was allerdings nichts daran änderte, dass sich mir die Nackenhärchen aufrichteten, als ich den Knauf drehte und eintrat.
Devins Büro wurde von einem Dutzend Lampen erhellt, die sowohl die rußigen Wände als auch die betagten Möbel in ein harsches Licht tauchten. Der Anblick war wenig schmeichelhaft, aber keine Illusio n – er zeigte von Anfang an, was man bekam. Dafür musste ich ihn respektieren, wenngleich es mir ein wenig Kopfzerbrechen bereitete. Die meisten Reinblütler sind so vom Licht besessen wie unsterbliche Motten, die nach sterblichen Flammen jagen. Im Gegensatz zu Menschen oder Wechselbälgern können sie zwar ohne Licht tadellos sehen; sie wollen es aber trotzdem. Vielleicht liegt die Anziehungskraft in der Nutzlosigkeit. Devin war kein Reinblut, doch das hielt ihn nicht davon ab, dem Licht zu folgen. Ich habe nie herausgefunden, weshalb.
Hinter dem Schreibtisch saß er höchstpersönlic h – halb auf dem Stuhl zurückgelehnt. Ich blieb an der Tür stehen, musterte ihn und versuchte zu atmen.
Wenn man uns beide betrachtete, hätte man nie vermutet, dass Devin über hundert Jahre älter war als ich; auch er war ein Wechselbalg, aber sein Blut war stärker als das meine, zudem meinten es die Jahre mehr als gut mit ihm. Jeder wird geboren, um eine bestimmte Rolle im Leben zu erfüllen. Devin wurde dafür geboren, über sein eigenes Nimmerland zu herrschen, und er war nahezu übernatürlich prädestiniert dafür. Sein Haar glich dunklem, welligen Gold, bei dessen Anblick es meine Finger juckte hindurchzufahren, und sein Gesicht hätte einem griechischen Gott gut gestanden. Allein seine dunkelvioletten, mit einem weißen, an Blütenblätter erinnernden Strahlenkranz gesprenkelten Augen verrieten seine Unmenschlichkeit. Man konnte in der kreuz und quer gemusterten Dunkelheit seiner Augen versinken, wenn man zu lange hineinblickte, und dabei herausfinden, was er wirklich war, während man sich selbst verlor.
So sehr ich in der Vergangenheit auch versucht hatte, die Zusammensetzung seines Blutes zu erschmecken, es war mir nie gelungen. Und er hat es mir auch nie verraten. Ich habe immer vermutet, dass es irgendwo in seiner Herkunft Lamia gab: Es ist bekannt, dass die Schlangenfrauen ihren Tanz bis aufs Äußerste verlangsamen können, um menschliche Männer zu lieben, und es ist keineswegs unmöglich, dass daraus Kinder entstehen. In Faerie sind schon seltsamere Dinge geschehen. Es würde erklären, warum er mit diesen Augen manchmal tiefer zu blicken schien, als es irgendjemandem zustand.
Er hob den Kopf, und ein Lächeln hellte seine Züge auf, als er meinem Blick begegnete. Es versetzte mir einen kleinen Stich zu erkennen, dass er sich aufrichtig darüber freute, mich zu sehen. »Toby!«, rief er. »Endlich hast du beschlossen, zurück nach Hause zu kommen. Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich hätte nicht gedacht, dass du so lange fortbleiben würdest.« Er verstummte kurz und grinste dazu, bevor er hinzufügte: »Hübsches Kleid.«
»Ich war eine Weile damit beschäftigt, verzaubert und verlassen zu sei n … und bitte, um Oberons willen, erwähn das Kleid nicht.« Ich ließ mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. Er ächzte unter meinem Gewicht. Die Augen auf sein Gesicht gerichtet, stellte ich die unverfänglichste Frage, die mir einfiel. »Wie geht es dir?«
Devin ernüchterte und runzelte die Stirn. »Nach allem, was ich so höre, besser als dir. Toby, was ist passiert? Warum bist du nicht zurückgekommen? Ich hätte es dir erlaubt. Du bist hier immer willkommen.«
»Du weißt doch, warum ich das nicht konnte«, gab ich zurück und senkte den Blick. »Müssen wir das wirklich noch mal durchgehen?«
»Wenn wir es tun, kommen wir vielleicht endlich auch darüber hinweg.«
Ich holte tief Luft, die Worte stockten mir in der Kehle. Zweimal. Ich hatte Devin noch zweimal gesehen, nachdem ich das Heim verlassen hatte, um an Sylvesters Hof zu gehen. Das erste Mal war eine kalte, bittere Erfahrung, aber ein natürliches Ende
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