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Odd Thomas 4: Meer der Finsternis

Titel: Odd Thomas 4: Meer der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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kritisch gemeint.«

    »Ich habe seit einem halben Jahrhundert nicht mehr vor der Kamera gestanden.«
    »Es war nicht zu dick aufgetragen«, beruhigte ich ihn. »Es war einfach zu … überschwänglich. Das ist der richtige Ausdruck.«
    »Überschwänglich. Anders gesagt, weniger ist mehr.«
    »Genau, Sir. Sie sind wütend, klar, aber nicht außer sich. Sie spüren etwas Bitterkeit. Aber die ist mit Bedauern gemischt.«
    Damit hatte ich ihn offenkundig in die richtige Richtung gelenkt, denn er nickte langsam. »Vielleicht hatte ich einen Sohn, den ich im Krieg verloren habe, und du hast mich an ihn erinnert.«
    »Sehr gut!«
    »Er hieß Jamie, und er sprühte vor Charme, Mut und Witz. Zuerst dachte ich, du bist genau wie er, ein junger Mann, der sich den vielen Versuchungen dieser Welt widersetzt … aber du warst bloß ein Blutsauger.«
    Ich runzelte die Stirn. »Also, Mr. Hutchison, ein Blutsauger …«
    »Ein Parasit, der mich nur ausnehmen wollte.«
    »Na gut, wenn Sie meinen.«
    »Jamie habe ich im Krieg verloren, und meine liebe Corrina ist an Krebs gestorben.« Seine Stimme wurde immer verzweifelter und sank zu einem Flüstern herab. »So lange bin ich schon allein, und du … du hast erkannt, wie du dir meine Verletzlichkeit zunutze machen konntest. Du hast sogar Corrinas Schmuck gestohlen, den ich dreißig Jahre lang verwahrt hatte.«
    »Wollen Sie denen das alles erzählen, Sir?«
    »Nein, nein. Ich lege mir nur meine Rolle zurecht.«
    Er nahm einen Teller aus dem Küchenschrank und legte zwei Kekse darauf.

    »Als Vater von Jamie und Witwer von Corrina bin ich nicht die Sorte alter Knacker, der sich in seiner Melancholie dem Schnaps zuwendet. Er wendet sich den Keksen zu … denn das ist das einzig Süße, das ihm von dem Monat bleibt, in dem du ihn zynisch ausgebeutet hast.«
    Ich zuckte zusammen. »Jetzt bekomme ich allmählich richtige Schuldgefühle.«
    »Meinst du, ich soll eine Strickjacke anziehen? Ein alter Mann, der sich in eine zerfetzte Strickjacke hüllt, kann wunderbar kläglich wirken.«
    »Besitzen Sie denn eine zerfetzte Strickjacke?«
    »Eine Strickjacke besitze ich durchaus, und die könnte ich ohne weiteres zerfetzen.«
    Ich betrachtete ihn, wie er da mit dem Keksteller und breitem Grinsen dastand.
    »Versuchen Sie doch mal, kläglich auszusehen«, sagte ich.
    Sein Grinsen erlosch. Seine Lippen bebten, pressten sich dann jedoch zusammen, als wollte er ein heftiges Gefühl unterdrücken.
    Er richtete den Blick auf den Teller mit den Keksen. Als er wieder aufsah, glänzten in seinen Augen Tränen.
    »Sie brauchen die Strickjacke gar nicht«, sagte ich.
    »Ehrlich?«
    »Ehrlich. Sie sehen so schon kläglich genug aus.«
    »Was für ein schönes Kompliment!«
    »Gern geschehen, Sir.«
    »Ich gehe lieber wieder ins Wohnzimmer. Da suche ich mir ein wunderbar trauriges Buch zum Lesen, und bis es an der Tür läutet, bin ich ganz in meiner Rolle aufgegangen.«
    »Vielleicht bringen die Kerle nicht heraus, wo ich wohne, und kommen gar nicht hierher.«

    »Sei nicht so negativ, Odd. Die kommen schon, ganz bestimmt. Das wird ein Spaß!«
    Mit dem Elan eines wesentlich jüngeren Mannes schritt er durch die Tür. Ich hörte, wie er durch den Flur ins Wohnzimmer ging.
    Schuhlos, hosenlos und blutig schaufelte ich ein paar Eiswürfel aus dem Gefrierfach und ließ sie in eine Plastiktüte fallen. Um die Tüte wickelte ich ein Geschirrtuch.
    Mit dem gespielten Selbstvertrauen eines vollständig angezogenen Mannes ging ich den Flur entlang. Als ich an der offenen Tür zum Wohnzimmer vorbeikam, erwiderte ich den Gruß von Hutch, der mir, in seinem Sessel melancholisch vor sich hin sinnierend, achtlos zuwinkte.

10
    Die Haut an meinem Schädel war abgeschürft, nicht aufgeplatzt. Als ich unter der Dusche stand, brannten das warme Wasser und das Shampoo zwar, aber die Wunde fing nicht wieder richtig an zu bluten.
    Ohne mir Zeit zu nehmen, mich vorsichtig abzutrocknen und mir das Haar zu föhnen, zog ich frische Jeans und ein sauberes T-Shirt an. Dann schlüpfte ich in mein Ersatzpaar Turnschuhe.
    Das Sweatshirt mit der Aufschrift MYSTERY TRAIN war im Meer versunken. Ein ähnliches Schnäppchen aus dem Secondhandladen trug das Wort WYVERN auf der Brust, in goldenen Lettern auf dunkelblauem Stoff.
    Wahrscheinlich war Wyvern der Name eines kleinen Colleges. Trotzdem kam ich mir nicht gescheiter vor, wenn ich das Ding trug.
    Während ich mich anzog, beobachtete mich Frank Sinatra vom Bett aus. Er lag auf der

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