Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
sadistischen Polizeichef in dessen Folterkeller Wortgefechte lieferte.
Ich ging etwas langsamer, kam allmählich wieder zu Atem und überlegte, wohin ich mich wohl zurückziehen konnte, ohne gestört zu werden. Normalerweise hätte ich dazu eine Kirche aufgesucht, aber nach dem Erlebnis mit Reverend Moran war mir das nicht mehr geheuer.
Am rechten Mundwinkel fühlte meine Unterlippe sich geschwollen an. Als ich sie vorsichtig mit der Zunge betastete,
entdeckte ich einen Riss, der brannte. Blut trat an der Stelle aber wohl nicht mehr aus.
Angesichts der Brutalität, mit der Rolf Utgard nach mir geschlagen hatte, konnte ich von Glück reden, dass ich keinen Zahn eingebüßt und ausgespuckt hatte.
Der dichte Nebel verwandelte selbst mir vertraute Viertel in ein fremdes Revier. Von ihm eingehüllt, sah alles aus der Ferne nicht nach dem aus, als was es sich schließlich entpuppte, sondern wie unbekannte Pflanzen und Bauten auf einer Welt, die um eine andere Sonne kreiste.
Jedenfalls war ich in ein Geschäftsviertel geraten, das ich nicht wiedererkannte. Es war weder das am Pier noch das rund um den Hafen oder das in der Nähe des Gerichtsgebäudes.
Hier waren die gusseisernen Laternenpfähle so alt, dass sie womöglich früher Gaslampen getragen hatten. Nun strahlte aus den Glasscheiben ein trübes gelbes Licht, das keinerlei Romantik verbreitete, sondern eine industrielle Kälte, die den Nebel zu Rauch verdichtete und jeden Schatten in eine Rußwolke verwandelte.
Die Betonplatten des Gehsteigs waren schief, rissig, befleckt und mit Abfall übersät, was man in dieser vom Tourismus lebenden Stadt normalerweise nicht duldete. In der atemlosen Nacht sahen die größeren Papierknäuel aus wie Vogelleichen, während die kleineren Fetzen mich an tote Insekten erinnerten.
Zu dieser Stunde waren alle Geschäfte geschlossen, die meisten Schaufenster dunkel; in einigen leuchteten Neonschilder mit dem Namen der Besitzer und den angebotenen Diensten.
Blau, grün, rot - aus irgendeinem Grund sah das Neon leblos aus. Die Farben waren falsch; sie verursachten Übelkeit und ließen mich an einen Jahrmarkt denken, auf dem im
letzten Zelt etwas so Schauriges wartete, dass es in kein Monstrositätenkabinett gepasst hätte.
Hinter einigen Ladenfronten verbargen sich Geschäfte, die ich in einem wohlhabenden Ort wie Magic Beach nicht erwartet hätte. Ich sah ein Pfandhaus und dann noch eines, ein Tattoostudio, das dichtgemacht hatte, einen Laden mit schmierigen Fenstern, der Sofortkredite anbot.
Hinter dem Fenster eines Secondhandladens, der einen Wühltisch mit Waren für je einen Dollar anpries, standen acht Schaufensterpuppen, die ebenso aus zweiter Hand stammten wie die Kleider, die sie trugen. Mit toten Augen und freudlosem Gesicht beobachteten sie die Straße.
Anderswo hatte schon wenig Verkehr geherrscht, in diesem Viertel hier fuhren überhaupt keine Autos durch die Gegend. Auch Fußgänger oder irgendjemanden, der in seinem Laden Überstunden machte, sah ich nicht.
Nur in wenigen der Wohnungen über den Geschäften brannte Licht. Hinter den dunklen oder hellen Fenstern zeigte sich aber kein einziges Gesicht.
Als ich zu einer Bushaltestelle kam, setzte ich mich auf die Bank, um nachzudenken. Wenn ich Motorengeräusche hörte oder Scheinwerfer nahen sah, konnte ich mich in die Einfahrt zwischen den beiden Gebäuden hinter mir zurückziehen und warten, bis das betreffende Fahrzeug vorübergefahren war.
Ich liebe Romane über Reisen, über Leute, die einfach aus ihrem bisherigen Leben heraustreten, in einen Bus oder ein Auto steigen und losfahren. Einfach los . Sie lassen die Welt zurück und finden etwas Neues.
Im meinem Fall könnte eine solche Lösung nie funktionieren. Egal, wie weit oder wie lange ich ginge, die Welt würde mich immer finden.
Am schlimmsten Tag meines Lebens habe ich einen Mann
außer Gefecht gesetzt und einen anderen getötet, als die beiden in meiner Heimatstadt Pico Mundo einen gut geplanten Terroranschlag verübten. Bevor ich den zweiten Killer erwischte, hatte er bereits einundvierzig Menschen verwundet und neunzehn getötet.
Im Untergeschoss des Einkaufszentrums, dem der Anschlag galt, hatten sie einen zur Bombe umfunktionierten Lastwagen abgestellt. Den fand ich und verhinderte die Detonation.
In den Medien wurde ich anschließend als Held bezeichnet, aber so fühle ich mich nicht. Ein Held hätte alle gerettet. Alle. Vor allem aber hätte ein Held auch die Person gerettet, die ihm am
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