Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
- außer natürlich, um mit einem Vertreter der faschistischen Verschwörung einen Kampf auf Leben und Tod auszutragen.
Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, ließ ich mich aus dem Fenster auf die Einfahrt hinter der Polizeistation fallen. Soweit ich das im Nebel beurteilen konnte, war ich allein.
Ich ging ein Stück weit an der Wand entlang und bog dann auf einen überdachten und beleuchteten Fußweg zwischen der Polizeistation und dem Gerichtsgebäude ein. Hier war es kaum noch neblig. Da ich nicht wusste, wie lange Mr. Sinatra sich noch austobte, fiel ich in einen vorsichtigen Trab.
Im Gerichtsgebäude war zu dieser Stunde wahrscheinlich nur noch der Putztrupp bei der Arbeit, und die Polizisten nebenan waren zu sehr damit beschäftigt, mit dem Spuk im Flur fertigzuwerden, um für eine Zigarettenlänge vor die Tür zu treten.
Als ich das Ende des Wegs erreicht hatte, rannte ich geradeaus in den kleinen Park, der an allen Seiten von Behördenbauten umgeben war.
Von den dunklen Zweigen riesiger Nadelbäume tropfte kondensierter Nebel. Unter meinen Füßen knirschten Pinienzapfen.
Alle paar Meter tauchten unregelmäßig angeordnete Sitzbänke aus Beton vor mir auf wie eine Prozession von Särgen und zwangen mich, nach links oder rechts auszuweichen.
In dem Gebäude, aus dem ich geflohen war, zerplatzte ein Fenster. Rasch folgten weitere, bestimmt ein halbes Dutzend. Das Klirren der aufs Steinpflaster regnenden Scherben klang so lieblich wie ein Orchester aus Feenglöckchen, allerdings nur, weil ich längst außer Reichweite war.
Von der Front der Polizeistation her waren Rufe zu hören. Im Nebel sah ich mehrere Gestalten hastig eine breite Treppe hinunterlaufen. Auch ohne eine mir von fiesen Regierungswissenschaftlern verabreichte Droge geschluckt zu haben, die mich zur Hellseherei befähigte, wusste ich, dass es sich um Polizisten handelte, die aus ihrer Dienststelle flohen.
In der Ferne heulten Sirenen auf. Das mussten zur Verstärkung herbeigerufene Streifenwagen sein, vielleicht auch die Feuerwehr und der Rettungsdienst.
Trotz der Finsternis rannte ich schneller, nicht ohne mir den Hund herbeizuwünschen, der mich vorher so sicher geführt hatte. Auch als der Park hinter mir lag, behielt ich mein Tempo bei, bis ich genügend Abstand zur Polizeistation gewonnen hatte.
Sobald ich es wagen konnte, langsamer zu gehen, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Zweiundzwanzig Minuten vor zehn.
Um Mitternacht, vielleicht auch früher, hatten Chief Hoss
Shackett und Rolf Utgard Atomwaffen an Land schmuggeln wollen.
Wenn der Chief und sein muskelbepackter Komplize durch den Blechtornado im Verhörraum getötet oder wenigstens außer Gefecht gesetzt worden waren, dann brach das Komplott womöglich in sich zusammen. Darauf verlassen konnte ich mich allerdings nicht. Wenn allein für Bestechungsgelder über vierhundert Millionen Dollar aufgewendet worden waren, dann verfügte diese Operation bestimmt über mehr als nur einen Alternativplan.
Ich dachte an die beiden Uhren, die eine Minute vor Mitternacht stehengeblieben waren. Wenn das ein Omen darstellte, dann bedeutete es wahrscheinlich nicht, dass die Bomben zu diesem Zeitpunkt vor der Küste in Empfang genommen werden sollten. Eher wies es auf die letzte Minute hin, in welcher der Plan vereitelt werden konnte. Das aber war der Augenblick, in dem die Bomben auf einen oder mehrere Lastwagen verladen wurden, um sie aus Magic Beach herauszuschaffen und anschließend vielleicht auf andere Fahrzeuge umzuladen, mit denen der Tod in mir unbekannte Städte gebracht werden sollte.
30
Seit der Begegnung mit Rolf Utgard und seinen rothaarigen Komplizen auf dem Pier war so viel geschehen, dass ich kaum Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Während ich versucht hatte, mit den auf mich einstürmenden Ereignissen fertigzuwerden, hatte ich mich hauptsächlich vom Instinkt und von den paranormalen Fähigkeiten leiten lassen, die meine Reise durchs Leben so interessant, so kompliziert und gelegentlich auch so traurig machten.
Nun brauchte ich fünfzehn Minuten, um ruhig überlegen zu können, eine Viertelstunde, in der weder mein Leben noch das von jemandem, der sich auf mich verließ, in unmittelbarer Gefahr war. In dieser Nacht hatten sich Dinge ereignet, die ich so noch nie erlebt hatte und die mir ein Rätsel waren. Sie erforderten eine Betrachtungsweise, zu der ich nicht fähig war, während ich vor einer tödlichen Bedrohung davonrannte oder mir mit einem
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