Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Einen Moment lang kam mir der Gullydeckel wie eine perforierte Ofenklappe vor.
Im Stehen war ich zu weit von dem Gitter entfernt, um die Quelle des Flackerns erkennen zu können, deshalb trat ich vom Bordstein und kniete mich vor den Gully.
Über Beton gleitende Schuhsohlen hätten derartige Geräusche erzeugen können. Mir kam ein Trupp erschöpfter Soldaten in den Sinn, die mit bleiernen Füßen von einer Schlacht zur nächsten zogen.
Ich senkte das Gesicht näher zum Gitter.
Ein schwacher, kühler Luftzug stieg von unten herauf, begleitet von einem Geruch, wie ich ihn noch nie wahrgenommen hatte. Er war nicht abstoßend, aber seltsam. Fremdartig. In Anbetracht des Ortes, von dem er kam, war er merkwürdig trocken. Ich sog dreimal tief die Luft ein, um ihn vielleicht doch identifizieren zu können, bevor ich merkte, dass sich mir die Nackenhärchen sträubten.
Als das orangefarbene Flackern zum dritten Mal auftauchte, hoffte ich zu sehen, was sich da unten durch den Kanal bewegte. Das Licht jagte jedoch so viele Schatten über die gebogenen Wände, dass sie den Blick verwirrten und nicht erkennen ließen, was sie warf.
Vielleicht hatte ich unbewusst mit der Zunge an meiner verletzten Lippe gerieben oder darauf gebissen, denn die Wunde war wieder aufgeplatzt. Ein frischer Blutstropfen fiel auf den Rücken meiner rechten Hand, die sich neben dem Ring mit dem Blitzstrahl aufs Gitter stützte.
Der nächste Tropfen fiel zwischen den Stäben hindurch in die dunkle Tiefe.
Offenbar hatte meine Hand ohne mein bewusstes Zutun den Weg zum Gitter gefunden.
Wieder flackerte unten Licht auf, und die grotesken Schatten schienen sich weiter auszubreiten als vorher. Auch ihre Bewegungen kamen mir erregter vor, doch was sie hervorrief, blieb mir weiterhin verborgen.
Als das flackernde Licht erloschen war, sah ich, dass die Finger meiner rechten Hand versuchten, durchs Gitter zu greifen.
Diese Tatsache registrierte ich mit Besorgnis, war jedoch nicht in der Lage, meine Hand zurückzuziehen. Was mich anzog, war etwas anderes als reine Neugier. So musste sich eine vom Licht trunkene Motte fühlen, wenn sie mit den Flügeln an eine Flamme schlug, die sie vernichten würde.
Während ich überlegte, ob ich die Stirn ans Eisengitter legen sollte, um vielleicht beim nächsten Aufflackern des Lichts dessen Ursprung zu erkennen, hörte ich Bremsen quietschen. Ein Auto, das ich bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatte, hielt auf der Straße direkt hinter mir.
31
Wie aus einer Trance erwacht, erhob ich mich vom Boden und drehte mich um, in Erwartung eines Streifenwagens und zweier Cops mit hartem Lächeln und noch härteren Schlagstöcken.
Stattdessen stand vor mir ein Cadillac Sedan DeVille, Baujahr zirka 1959, der aussah, als wäre er gerade eben vom Band gerollt. Wuchtig, schwarz, mit viel Chrom und großen Heckflossen, war er eher für einen Weltraumausflug geeignet als für den heutigen Verkehr.
Die Fahrerin spähte durchs rechte vordere Fenster, das sie geöffnet hatte, zu mir heraus. Es war eine gewichtige Dame mit blauen Augen, rosa Wangen und gewaltigem Busen. Etwa anderthalbmal so alt wie ihr Wagen, trug sie weiße Handschuhe und ein graues Hütchen mit gelbem Band und gelben Federn.
»Alles in Ordnung, junger Mann?«, fragte sie.
Ich bückte mich zum offenen Fenster hinunter. »Ja, Ma’am.«
»Dir ist wohl was in den Gully da gefallen?«
»Ja, Ma’am.« Irgendwie stimmte das sogar, denn ich hatte keine Ahnung, was gerade geschehen - oder fast geschehen war. »Aber es war nichts Wichtiges.«
Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich einen Augenblick. »Unwichtig war es aber auch nicht gerade«, sagte
sie dann. »Du siehst nämlich ganz so aus, als bräuchtest du Hilfe.«
Der Schacht unter dem nahen Rost blieb dunkel.
»Was ist mit deiner Unterlippe passiert?«, fragte die Dame.
»Eine Meinungsverschiedenheit über ein musikalisches Thema. Rod Stewart oder Frank Sinatra.«
»Sinatra«, sagte sie.
»Den Standpunkt habe ich auch vertreten.« Ich warf einen Blick auf das Pfandhaus hinter mir, dann auf den Secondhandladen mit den Schaufensterpuppen. »Der Nebel bringt mich ganz durcheinander. Ich weiß momentan gar nicht, wo ich bin.«
»Wo willst du denn hin?«
»Zum Hafen.«
»Das ist auch mein Ziel«, sagte sie. »Willst du mitfahren?«
»Sie sollten aber keine Fremden mitnehmen, Ma’am.«
»Alle Leute, die ich kenne, haben selbst ein Auto. Zu Fuß würden die meisten nicht mal zur nächsten
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