Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
am Stoff meines Shirts gerieben und mich gestört. Da ich nicht besonders gut an die Stelle herankam und keine Zeit hatte, verwendete ich keine Gaze, sondern klebte nur weißes, wasserdichtes Heftpflaster darüber.
Wenn ich das Zeug später abriss, würde sich die Wunde wahrscheinlich wieder öffnen, aber das kümmerte mich wenig. Falls es tatsächlich dazu kam, dann bedeutete das, dass ich Utgard und seine Crew überlebt hatte.
Ich war gerade dabei, in mein Sweatshirt zu schlüpfen, als der nächste dumpfe Schlag das Boot erschütterte.
Obwohl nicht zu erwarten war, dass jemand herunterkam, bevor alles verladen war, knipste ich das Licht aus und blieb im Dunkeln stehen. Wenn jemand die Tür aufmachte, konnte ich ihn erschießen, während er nach dem Schalter tastete.
Die kleine Toilette besaß kein Bullauge. Auch zwischen Tür und Rahmen drang keinerlei Licht herein.
Mir fiel der Spiegel in Sam Whittles Badezimmer ein, der sich nach außen gewölbt hatte, um den Geist des Ermordeten zu ergreifen.
Über dem Waschbecken, neben dem ich stand, hatte ich ebenfalls einen fleckigen Spiegel gesehen. Nun konnte ich nicht erkennen, ob sich womöglich etwas in seiner dunklen Oberfläche bildete.
Merkwürdigerweise konnte meine sonst so fiebrige Fantasie mit diesem üppigen Material überhaupt nichts anfangen.
Echte Gewalt war auf mich zugekommen, und es drohte weitere.
Das Tor zur Rücksichtslosigkeit, das ich in mir geöffnet hatte, war noch nicht wieder zugefallen. Mehr als vor Finsternis und Spiegeln fürchtete ich mich vor dem, was aus diesem inneren Tor kommen konnte.
Die Vibrationen, die sich auf den Rumpf unseres Boots übertrugen, wurden deutlich stärker. Offenbar war alles umgeladen, und der Motor von Junie’s Moonbeam lief auf Hochtouren. Wenig später nahm auch das Schaukeln zu, hervorgerufen von der ablegenden Jacht.
Ich trat in den Gang und ging auf die Wendeltreppe zu, immer entgegen der Bewegung des schwankenden Decks, um im Gleichgewicht zu bleiben.
Am Ende der Treppe erwartete mich die Tür, durch die ich heruntergekommen war. Sie hatte ein Bullauge, durch das ich das lange, von Nebel eingehüllte Achterdeck sah, das immer noch von dem Halogenstrahler erhellt wurde.
Zwei Kisten, die vorher noch nicht da gewesen waren, standen steuerbords auf dem Deck. Sie waren etwa so groß wie Särge und sahen so aus, als hätten wir keine monströsen Waffen an Bord genommen, mit denen man ganze Städte
vernichten konnte, sondern nur Graf Dracula und seine Braut, die auf transsilvanischer Erde ruhten, um in Kürze zu erwachen.
Rolf Utgard, gekleidet in schwarze, glänzende Trainingshosen und eine passende Jacke, und ein Mann, den ich noch nicht gesehen hatte, standen neben dem kleinen Kran und besprachen sich.
Zwei weitere Männer waren an Steuerbord damit beschäftigt, Werkzeuge in einem auf dem Deck befestigten Kasten zu verstauen. Sie wandten ihren Komplizen den Rücken zu.
Utgard und der Mann, mit dem er gesprochen hatte - zweifellos Buddy -, zogen ihre Pistolen, gingen rasch auf die beiden arbeitenden Männer zu und schossen ihnen in den Rücken. Als die Opfer bäuchlings am Boden lagen, bückten sich die Henker, um ihnen jeweils einen Gnadenschuss in den Nacken zu verpassen.
38
Hinter dem Bullauge der Tür stehend, zögerte ich, weil ich dachte, sie würden die Leichen mit Ketten beschweren, um sie erst dann über Bord zu werfen.
Offenbar vertrauten sie jedoch darauf, dass es mehrere Tage dauerte, bis das Meer die beiden Toten an Land spülte, falls es das überhaupt tat. Sie steckten ihre Waffen weg, packten die Leichen an Kragen und Gürtel und zerrten sie zur Backbordreling.
Die beiden hatten mir den Rücken zugewandt, aber so leicht angreifbar waren sie wohl nur für kurze Zeit. Bärenstark, wie Utgard war, zerrte er sein Opfer nicht lange über den Boden, sondern hob es auf und trug es auf den Armen.
Ich wagte nicht, darüber nachzudenken, was nun von mir gefordert war. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Grund, weshalb ich handeln musste. Tat ich es nicht, stand mir ein grausames Bild vor Augen: zahllose Körper, die von der Hitze der Explosion bis zu den Knochen verbrannten oder von der Druckwelle in Stücke gerissen wurden, zertrümmerte Museen und Kirchen, kochender Asphalt, eine Todeszone voller Asche und Vernichtung.
Ohne wahrzunehmen, dass ich die Tür aufgestoßen hatte, stand ich plötzlich auf dem offenen Deck und setzte mich in Bewegung.
Der Nebel direkt vor mir
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