Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
trat ich durch eine Tür und sah eine Frau am Ruder stehen. Im selben Augenblick drehte sie sich zu mir um und starrte mich an, ohne die Hände vom Steuerrad zu nehmen.
Eigentlich hätte mir vorher schon klar sein müssen, dass jemand am Ruder stand, sonst wäre das Boot den Wellen und Strömungen ausgeliefert gewesen, die es langsam im Kreis gedreht hätten. Während ich Utgard und Buddy erschossen, die Metallkästen geöffnet und die Bombenzünder eingesammelt hatte, waren wir jedoch langsam geradeaus gefahren.
Ich wusste sofort, wer diese Frau sein musste.
39
Über weißen Slacks und einem kostbaren, perlenverzierten Pullover trug sie einen grauen Mantel aus weichem Leder, der am Kragen, am Revers und an den Ärmeln mit Fuchspelz besetzt war.
»Kein Arzt wird dir glauben, dass du an einer üblen Muschelallergie leidest«, sagte ich, während ich die Ledertasche auf den Boden stellte.
Sie war nicht älter als fünfundzwanzig, und sie war schön - nicht so, wie der tote Joey drunten im Funkraum wohl die Frauen in seinem Männermagazin empfunden hatte, sondern wie ein Model aus einem noblen Versandhauskatalog. Sinnlich sah sie aus, aber nicht vulgär; sie hatte einen üppigen Mund, feine Gesichtsknochen, große, klare, blaue Augen und scheinbar keinerlei Ecken und Kanten.
»Ich habe ein Fläschchen mit einem ziemlich üblen Gebräu dabei«, sagte sie, nahm eine Hand vom Ruder und klopfte sich auf eine ihrer Manteltaschen. »Das trinke ich, bevor wir anlegen. Täuscht einige der klassischen Symptome vor.«
Man hatte also für jede Eventualität vorgesorgt, denn da man der Küstenwache weisgemacht hatte, man würde eine Frau mit einer schweren Allergie an Land holen, kam die Zentrale womöglich auf die Idee, später beim Krankenhaus nachzufragen, ob tatsächlich eine solche Patientin aufgenommen worden war.
Ein leises Piepen lenkte meinen Blick auf den Radarschirm. An den äußersten Ringen blinkte es an mehreren Stellen. Bei dem einzigen Punkt, der sich in größerer Nähe befand, musste es sich um Junie’s Moonbeam handeln.
»Wer bist du?«, fragte die Frau im Ledermantel.
»Harry«, antwortete ich.
»Der Harry. Ich wusste gar nicht, dass es einen gibt.«
»Über eine solche Formulierung würde meine Mutter sich aber freuen. Sie meint nämlich, ich sei der einzige Harry, den es je gegeben hat.«
»Muss schön sein, eine Mutter zu haben, die einem nicht brutal auf die Nerven geht.«
»Und wie heißt du?«, fragte ich.
»Valonia.«
»Den Namen habe ich tatsächlich noch nie gehört.«
»Er kommt von einer bestimmten Sorte Eichen. Wahrscheinlich hat meine Mutter gedacht, aus mir wird ein riesiger Baum. Wo ist Utgard?«
Von der Brücke aus konnte man das Achterdeck nicht sehen.
»Er hat noch was … zu erledigen«, sagte ich.
Sie lächelte. »Ich bin kein Mauerblümchen.«
Ich zuckte die Achseln. »Und?«
»Er hat mir gesagt, er würde die Crew reduzieren.«
»Reduzieren. Hat er das so genannt?«
»Passt dir seine Wortwahl nicht?«
»Ich bin schon damit zufrieden, dass ich nicht zu denen gehöre, die reduziert worden sind.«
»Wahrscheinlich nimmst du dir das mehr zu Herzen.«
»Wieso sollte ich?«
»Du kanntest sie, sie waren deine Kumpel«, sagte Valonia. »Ich kannte sie nicht.«
»Da hast du nicht viel versäumt.«
Die von mir zur Schau gestellte Skrupellosigkeit gefiel ihr sichtlich. Sie betrachtete mich mit größerem Interesse als vorher.
»Welche Rolle spielst du hier eigentlich, Harry?«
»Die eines Güldenstern, nehme ich an.«
Sie runzelte die Stirn. »Bist du etwa Jude?«
»Das war eine Anspielung auf ein Stück von Shakespeare.«
Das Stirnrunzeln ging in einen amüsierten Schmollmund über. »Du siehst nicht wie ein Typ aus, der gern in verstaubten alten Büchern blättert.«
»Und du siehst nicht wie eine Frau aus, die ganze Großstädte in die Luft sprengen will.«
»Weil du mich noch nicht richtig kennst.«
»Besteht die Chance, dass sich das ändern könnte?«
»Momentan würde ich sagen, die steht fifty-fifty.«
»Nicht schlecht«, kommentierte ich.
Weil ich nicht spüren konnte, ob sie Verdacht geschöpft hatte, war ich nicht näher zu ihr getreten. Je lockerer sie mir gegenüber wurde, desto leichter war es, sie zu überwältigen, ohne ihr hübsches Äußeres zu beschädigen. Für die Polizei war so jemand ein Glücksfall, denn man konnte ihr eine Menge Informationen entlocken.
Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Wie heißt du sonst noch,
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