Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Städte?«, wiederholte ich lauter.
»Keine Ahnung. Ehrlich! Wozu hätte man mir das sagen sollen?«
»Wer ist der Besitzer der Jacht?«
»Irgendein Milliardär. Den Namen kenne ich nicht.«
»Ein Amerikaner?«
»Scheiße, ja.«
»Wieso sollte ein Amerikaner so etwas tun wollen?«
»Wieso nicht, wenn er es kann?«
Ich zog ihm den Lauf der Waffe übers Gesicht. Eine Augenbraue riss auf.
»Wieso?«
Er presste die Finger auf die zerfetzte Haut. »He, schon gut«, stotterte er mit dünner, hoher Stimme, als wäre er wieder zum Kind geworden. »He, also, es ist so … okay? Ich sag dir … okay? … die Wahrheit … kurz bevor die Bomben explodieren … okay? … werden Leute ermordet.«
»Wer wird da ermordet?«
»Der Präsident, der Vizepräsident, viele andere.«
»Dann die Bomben. Und danach?«
»Sie haben einen Plan.«
»Wer? Welchen Plan?«
»Weiß nicht. Ehrlich. Selbst was ich jetzt … okay? … gesagt hab … die wissen gar nicht, dass ich das weiß. Okay? Mehr weiß ich nicht. Ich schwör’s dir. Ehrlich, Mann!«
Ich glaubte ihm, aber selbst wenn ich sein Stammeln nicht für wahr gehalten hätte, wäre keine Gelegenheit mehr gewesen, ihn weiter auszufragen.
Das Klappmesser war offenbar im rechten Ärmel seines
Hemds versteckt gewesen, in einer an den Arm geschnallten Scheide. Wie er es schaffte, es herauszuholen, weiß ich nicht, aber plötzlich sah ich es aus dem Ärmel in seine linke Hand gleiten. Die Klinge schnappte heraus.
Wie gelähmt sah ich den scharfen Stahl aufblitzen, und er stach zu, bevor ich ihm in die Kehle schoss.
Auch der zweite Knall hörte sich nicht besonders laut an. Das Brummen der Motoren und das Klappern auf dem Achterdeck hatten ihn sicher völlig übertönt.
Joey rutschte vom Stuhl und sank auf dem Boden in sich zusammen wie eine Vogelscheuche, deren Stroh die losen Klamotten nicht mehr aufrecht halten konnte.
Die Klinge war so scharf, dass sie den dicken Stoff meines Sweatshirts wie Seide aufgeschlitzt hatte.
Ich tastete durch den Schlitz nach der Stelle an meiner rechten Seite, wo es brannte, direkt über der untersten Rippe. Er hatte mich erwischt.
37
Ich setzte mich auf den Funkertisch, wohin kein Blut gespritzt war.
Dafür zog sich eine rote Spur bogenförmig über die Wand und endete zersprüht am Glas des Bullauges. Sie sah aus, als wäre die Seele auf diesem Weg aus der Kabine und der Welt geflohen.
Meine Wunde war nur oberflächlich. Sie blutete leicht und tat nicht besonders weh, machte mir aber trotzdem Sorgen. Ich presste die linke Hand darauf, schloss die Augen und versuchte, mir das blaue Wasser eines Sees in den Sinn zu rufen, dessen Bild mir immer Hoffnung machte.
Stormy Llewellyn und ich waren achtzehn gewesen, als wir an dieses salzige Gewässer gefahren waren, um in der Sonne zu liegen und zu schwimmen.
Ein Schild wies warnend darauf hin, dass an jenem Tag kein Rettungsschwimmer im Dienst war. Man solle sich deshalb im seichten Wasser nahe dem Ufer halten.
Die grelle Wüstensonne sprenkelte Diamanten in den Sand und ließ das Wasser wie Juwelen glitzern.
Die Hitze schien den Mechanismus der Zeit zu schmelzen, so dass wir meinen konnten, wir würden niemals altern, unsere Gesinnung ändern oder voneinander getrennt werden.
Wir fuhren mit einem Boot auf den See hinaus. Ich ruderte
ins Blaue, während der Himmel über uns sich auf der Oberfläche spiegelte.
Ich zog die Ruder ein. Auf beiden Seiten bog die sanft plätschernde Bläue sich von uns weg, als hätte man uns eine eigene kleine Welt geschenkt, wo der Horizont näher war als auf der großen Erde.
Wir stiegen über Bord und legten uns auf den Rücken ins salzige Wasser, in der Schwebe gehalten von der trägen, flügelgleichen Bewegung unserer Arme. Mit geschlossenen Augen, auf deren Lider die Sonne brannte, sprachen wir miteinander.
Dabei ging es im Grunde immer nur um eines: Träumerisch stellten wir uns unsere Zukunft vor.
Von Zeit zu Zeit bemerkten wir, dass das Ruderboot von uns weggetrieben war. Dann schwammen wir darauf zu, um uns in seiner Nähe wieder auf den Rücken zu legen und laut weiterzuträumen.
Später, als ich uns zum Ufer zurückruderte, hörte Stormy vor mir den Schrei und sah den ertrinkenden Jungen.
Er war neun oder zehn, und um zu demonstrieren, wie toll er schwimmen konnte, hatte er sich zu weit vom Ufer entfernt. Seine Arme erlahmten, die Beine verkrampften sich, und plötzlich konnte er sich trotz des Auftriebs, den das salzige Wasser verlieh, nicht
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