Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
mehr an der Oberfläche halten.
Stormy sprang über Bord, geschmeidig und flink. Von ihren kraftvollen Bewegungen teilte sich das Wasser.
Mutter und Schwester des Jungen, die beide nicht schwimmen konnten, nahmen die drohende Katastrophe erst wahr, als Stormy aufs Ufer zuschwamm. Mit einem Arm kraulte sie, mit der anderen zog sie das Kind mit sich.
Sie schwamm schneller, als ich rudern konnte. Ich ließ das
Boot aufs Ufer laufen und rannte zu ihr, um ihr zu helfen, aber es war nicht nötig, einen Wiederbelebungsversuch zu machen. Sie hatte den Jungen ergriffen, bevor er das salzige Wasser eingeatmet hatte.
Das ist ein Augenblick, der mir immer frisch im Gedächtnis bleiben wird: der hustende Junge, die weinende Mutter, die verängstigte Schwester - und Stormy, die sich um alle drei so kümmerte, wie sie es brauchten.
Immer hat sie andere gerettet. Mich auch, das weiß ich nur zu gut.
Ich hatte zwar gedacht, das Boot sicher auf den Strand gesetzt zu haben, aber als ich hinüberschaute, schaukelte es schon im tiefen Wasser.
Der See war groß. So ruhig seine Oberfläche auch aussah, in seinem Innern herrschten Strömungen.
Ich watete ins Wasser und schwamm los, doch das Boot, von einer solchen Strömung erfasst, bewegte sich rasch von mir fort.
Vielleicht war die irrationale Angst, die mich ergriff, teils darin begründet, dass ich durch den fast ertrunkenen Jungen an die ständige Gegenwart des Todes erinnert worden war. Dazu beigetragen hatte aber wohl auch, dass Stormy und ich von unserer gemeinsamen Zukunft geträumt und dadurch das Schicksal herausgefordert hatten.
Aus welchem Grund auch immer, meine Furcht nahm rasch zu, je weiter das Boot sich von mir entfernte. Bald war ich fest davon überzeugt, wenn ich das Boot nicht einholen könnte, dann würde die erträumte gemeinsame Zukunft nie eintreffen, und stattdessen würde der Tod, dem der Junge knapp entkommen war, einen von uns beiden holen.
Weil das Boot nur dahintrieb, während ich schwamm, erreichte ich es nach einer Weile. Als ich mich hineingezogen
hatte, saß ich zitternd da, zuerst vor Angst und dann vor Erleichterung.
Im Nachhinein glaube ich, dass ich damals auf dem Weg zum Boot eine schwache Vorahnung der Gewalttat hatte, durch die ich Stormy einige Jahre später tatsächlich verlieren sollte.
Dennoch erinnere ich mich gern an jenen Tag am See. An den Himmel und das Wasser und daran, wie sicher wir uns in dieser blauen Sphäre fühlten.
Dann tue ich so, als könnte ich immer noch eine gemeinsame Zukunft mit Stormy erträumen, auf einer neuen Erde, die nur uns allein gehört.
Während wir auf dem Rücken schwebten, kamen unsere Hände durch die trägen Armbewegungen immer wieder in Kontakt, und dann hielten wir uns einen Augenblick fest, als wollten wir sagen: Ich bin da, ich bin immer da.
Der Schlepper schwankte, die zwischen den Booten hängenden Gummielemente ächzten, und von achtern kam ein dumpfer Schlag, der das Deck erzittern ließ.
Ich rutschte vom Funkertisch und blieb reglos stehen. Der von seinem Stuhl gesunkene Tote lag auf der Seite, den Kopf so verdreht, dass er zur Decke blickte. Sein Mund stand offen, und die Augen sahen aus wie die eines auf Eis liegenden Fischs im Supermarkt.
Stormys toten Körper hatte ich nie gesehen, weil man ihn mir aus Rücksicht nur als Asche in einer einfachen Urne gebracht hatte. Dafür war ich nun unendlich dankbar.
Während ich den Funkraum verließ, wusste ich, dass es noch nicht an der Zeit war, mich nach oben zu wagen. Sobald Junie’s Moonbeam wieder im Nebel verschwunden war, nachdem man die Kisten mit den Bomben umgeladen und festgezurrt hatte, würden Utgard und der mir noch unbekannte
Buddy sich daranmachen, Jackie und Hassan zu erledigen. Die besten Chancen hatte ich, wenn ich exakt in diesem blutigen Moment auf dem Achterdeck erschien.
Im Gang gab es nur noch eine Tür, die ich nicht geöffnet hatte. Sie befand sich direkt gegenüber dem Funkraum. Ich drückte die Klinke nieder, tastete nach dem Lichtschalter und trat in eine Toilette.
Ein weißes, mit einem roten Kreuz gekennzeichnetes Eckschränkchen enthielt eine Menge Verbandsmaterial.
Nachdem ich vorsichtig Sweatshirt und T-Shirt ausgezogen hatte, zog ich die Wunde mit den Fingern auseinander und goss Alkohol darüber.
Genäht werden musste sie nicht. Die Blutung, die durch die Behandlung wieder eingesetzt hatte, würde bald aufhören.
Provisorisch verbinden musste ich die Wunde trotzdem, sonst hätte sie sich ständig
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