Oder sie stirbt
Sprechstunden abzuhalten. Wer auch immer als Letzter hier gewesen war, er war schon gegangen. Ich zog die Tür hinter mir zu, warf meine Tasche auf den Boden und setzte mich an den kleinen Schreibtisch. Es gibt bestimmt nur wenige Orte, die so deprimierend sind wie ein geteiltes Büro. Abgekaute Bleistifte in einem Kaffeebecher mit Lippenstiftabdrücken. Mehrere alte Lehrbücher und eine billige Holzplastik von den drei weisen Affen auf dem ansonsten leeren Regal. Ein beigefarbener Dell aus der Zeit der Jahrhundertwende.
Ich hob den Deckel meiner Tasche leicht an. Ein Stapel unkorrigierter Arbeiten starrte mich an. Ich zog ihn heraus, tastete in meinen Taschen und hinter dem Ohr nach einem Rotstift und fand schließlich einen in der untersten Schublade, neben einem angebissenen Muffin. Das musste reichen. Ich schaffte anderthalb Skripte, dann ertappte ich mich dabei, wie ich kleine Kreise aufs Papier malte, die aussahen wie die Markierungen für die Überwachungskameras auf dem Grundriss unseres Hauses.
Der Dell brauchte geschlagene zwei Minuten, bis er hochgefahren war. Die analoge Einwahl ins Internet dauerte noch länger. Ich knabberte an meiner Wange und war plötzlich auf der Gmail-Seite, auf der ich
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und als Passwort den Mädchennamen meiner Mutter eingab. Mein Finger blieb auf der Maus, doch ich zögerte, bevor ich klickte. Sie hatten gesagt, dass am Sonntag um vier Uhr eine Mail eingehen würde, also übermorgen. Wovor hatte ich jetzt solche Angst?
Tief durchatmen. Klick. Die kleine Sanduhr lief und lief.
Da war er. Ein Mail-Account.
Mein
Mail-Account. Und er erwartete mich mit einer leeren Mailbox.
Als es an der Tür klopfte, fuhr ich so heftig zusammen, dass ich fast die Tastatur vom Tisch fegte. Hastig loggte ich mich aus, gerade noch rechtzeitig, bevor Dr. Peterson eintrat. »Patrick, mir sind da in letzter Zeit gewisse Unregelmäßigkeiten zu Ohren gekommen.«
»Unregelmäßigkeiten?« Ich stupste die Maus an und klopfte leicht darauf, um den Browserverlauf zu löschen.
»Zu einem Kurs kommst du zu spät, zum nächsten tauchst du erst gar nicht auf. Eine Auseinandersetzung mit einem Studenten auf dem Flur.«
»Bitte?«
»Eine Art Schreiduell oder so was. Professor Shahnazari hat gehört, wie du einen Studenten mit Schimpfwörtern belegt hast.«
»Genau, das war …«
Sie hob einfach die Stimme und redete weiter. »Dann finde ich heraus, dass du nach der Akte eines Studenten gefragt hast. Glaubst du im Ernst, dass Aushilfsdozenten berechtigt sind, sich vertrauliche Unterlagen unserer Studenten anzusehen?«
»Nein. Das war einfach ein Fehlgriff von mir.«
»Da sind wir uns also einig.« Sie presste die Lippen zusammen, so dass sich die vertikalen Fältchen an den Seiten noch vertieften. »Ich hoffe, du kriegst dich schleunigst wieder in den Griff. Und halte dir bitte vor Augen, dass wir Eingriffe in die Privatsphäre ziemlich ungnädig aufnehmen.«
»Klar«, nickte ich. »Geht mir genauso.«
[home]
23
N achdem aufgeräumt war, sah das Haus fast noch schlimmer aus. Ich ließ den Blick über die Löcher in den Wänden gleiten, die aufgewölbten Teppichränder, die prallvollen Mülltüten. Unsere Behausung sah sich jetzt zwar wieder ähnlich, aber eben nur wie eine schwerbeschädigte Version. Meine Nikes standen neben der Schranktür, als wollte Ariana sie im Auge behalten. Den Regenmantel hatte sie neben sich über die aufgeschlitzten Sofakissen drapiert, als säße dort ein unsichtbarer Freund.
Sie hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug mein halb zerrissenes Celtics-T-Shirt von 2008 . In der Hand hielt sie ein Burgunderglas, das garantiert Chianti enthielt – sie liebte die billigeren Rotweine, aber das bauchige Glas gab ihr das Gefühl, etwas Richtiges zu trinken. Sie rollte mit den Augen, klemmte den Hörer zwischen Unterkiefer und Schulter ein und deutete ein Gähnen an. »Wenn er dich nicht zurückgerufen hat, dann schick ihm
keine
SMS . So was wirkt doch bloß verzweifelt.« Pause. »Ich bin sicher, er hat seinen AB abgehört, Janice. Du hast ihm doch erst gestern draufgesprochen. Lass dem Typen doch sein Wochenende.«
Ich blieb stehen, um die surreale Szene in mich aufzunehmen. Doch im Vergleich zu einem halb zerlegten Haus, dem verwanzten Regenmantel und dem Date an der Regenrinne kam sie mir fast schon wieder heimelig vor.
»Du, ich muss aufhören. Patrick ist gerade nach Hause gekommen … Ich weiß, ich weiß. Das wird
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