Odessa Star: Roman (German Edition)
drehte mich um und nahm mein schon fast wieder leeres Wodkaglas vom Klavier.
»Von wegen arm dran«, fuhr mein Schwager fort. »Geduld ist das Stichwort. Ich Kaffee kochen. Zimmer putzen. Parkettwachs? Parkettwachs? Auf jedes einzelne Wort muss man sich konzentrieren, um es zu verstehen. Dafür keine Geduld mehr aufbringen, so ist es. Ich habe die Geduld nicht mehr dafür. Ich bin dafür zu alt. Ich bin zu alt, um mir hilfsbereit lächelnd meine Muttersprache von Bekloppten anzuhören. Es bereitet mir Herzklopfen. Buchstäblich. Mir schwitzen die Hände, Junge.«
Peter hielt mir sein leeres Glas vors Gesicht. »Und ihr?«, fragte er. »Welches Land war es noch mal? Guatemala? Honduras? Etwas mit Erdbeben, erinnere ich mich.«
Ich starrte ihn angestrengt an, aber er blieb unscharf. Ich musste an Tante Ans denken. Tante Ans putzte früher die Zimmer in meinem Elternhaus; sie hörte es nicht gerne,wenn man sie Putzfrau nannte, und deshalb nannte meine Mutter sie »Haushaltshilfe«. Jetzt hörte ich auch ihre Stimme wieder, wenn sie mir über den Lärm des Staubsaugers zurief, ich solle meine Milch trinken. Fre-hed, trink deine Milch aus … Wenn ich aus der Schule kam, stellte sie mir immer ein Glas Milch hin und gab mir einen Apfel, aber wenn ich den Apfel gegessen hatte, schmeckte die Milch nach rostigem Metall und brackigem Wasser aus einem Tümpel, aus dem schon seit Langem alles Leben verschwunden war.
Ich verteilte den Moskovskaya. Der Wodka schwappte auf den Parkettboden. »Wir haben seit Kurzem ein marokkanisches Mädchen«, sagte ich.
Nach dieser Mitteilung trat eine kurze Stille ein.
»Mit oder ohne?«, fragte mein Schwager schließlich.
Ich sah ihn an. »Mit oder ohne«, wiederholte ich – aber ohne Fragezeichen, er sollte nicht merken, dass ich keine blasse Ahnung hatte, wovon er redete.
Mein Schwager kippte das Glas hinunter, rülpste und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Mit oder ohne Kopftuch?«
Und in dem Augenblick klingelte es an der Haustür. Es war kein normales Klingeln, sondern ein anhaltender Ton, als hätte es jemand schon mehrmals vergeblich versucht.
»Ich dachte schon, du machst überhaupt nicht mehr auf«, rief Max von unten, als ich den Kopf durch die Tür steckte. Hinter ihm, halb auf der Straße, standen noch zwei Leute. Ein Mann und eine Frau – aber sogar im Halbdunkel war deutlich zu erkennen, dass es nicht Sylvia war; Sylvia war ja mindestens einen Kopf größer als Max. Es war vielmehr der andere Mann, der hoch über die beiden hinausragte. Sein Haar war so kurz, dass sein Schädel im Licht der Straßenlaternen hell glänzte.
»Ich habe ein paar Freunde mitgebracht«, sagte Max, als sie oben ankamen.
Der Mann mit dem glänzenden Schädel musste sich bücken, aber er tat es mit der geschmeidigen Bewegung eines Mannes, der es gewohnt ist, Wohnungen im normalmenschlichen Maßstab zu betreten, er streckte mir die Hand hin.
»Richard.«
Ich rechnete mit einem eisernen Händedruck, einer Umklammerung, die mir die Tränen in die Augen treiben würde, aber seine Hand war warm und weich – fast wie die eines Mädchens. Wie Max trug er sein schwarzes Hemd über der Hose. Später hörte ich auch seinen Nachnamen – H. –, aber nicht öfter als zwei-, dreimal, glaube ich.
Die Frau hatte kurz geschnittenes, schwarzes Haar, einen Ring durch den Nabel und auch noch einen direkt unter der Unterlippe. »Das ist Galja«, sagte Max. »Du kannst sagen, was du willst, sie versteht dich doch nicht.«
Er zwinkerte mir zu.
»Galja ist eine Bestie«, sagte er. »Ein echter Hammer.« Er fasste sie um die Taille, seine Finger fühlten kurz an ihrem Nabelring. »In Odessa träumen sie nur von einer Sache, Kochen und Spülen für Männer wie dich und mich. Verstehst du das, versteh ich das?«
Galja lächelte Max an und spitzte die Lippen. Max küsste sie.
»Es hat mit dem Kurs des Rubel zu tun«, sagte er. »Oder mit Tschernobyl. Oder whatever.«
Mir fiel erst jetzt auf, dass Max getrunken hatte; er musste sich am Türpfosten festhalten. Galja hatte die Augen und Lippen, für die jeder Mann Frau und Kinder verlässt, um ihr in den nächsten Jahren über mehrere Kontinente zu folgen.
»Ich habe zu meinem Leidwesen kein Geschenk für dich, lieber Junge«, sagte Max. »Es war alles ein bisschen überstürzt. Ohne den Piepser wären wir jetzt nicht hier. Simple as that.«
Ich sah ihn fragend an. Richard H. war an mir vorbei insWohnzimmer gegangen. Max schob den Ärmel hoch
Weitere Kostenlose Bücher