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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Twingo. Sowohl die Farbe als auch die Marke passten in keiner Weise zur neuen Phase meines Lebens, die, davon war ich überzeugt, gerade im Begriff war anzubrechen; aber da es nur vorübergehend war, grinste ich auf der Fahrt nach Wijk aan Zee wie ein Honigkuchenpferd.
    Der Twingo hatte ein kleines Schiebedach; ich trug meine neue Sonnenbrille und sang »Stuck in the Middle with You« laut mit. Das Auto hatte keinen CD -Spieler, deshalb hatte ich mir noch am gleichen Tag, an dem ich mit Max und Richard vom Strand nach Hause gefahren war, den Soundtrack von Reservoir Dogs gekauft und ihn an einem Abend, als Christine zum Yoga und David zur Trommelstunde gegangen war, auf eine Kassette überspielt. Ich war damit noch nicht ganz fertig, als ich den Schlüssel in der Haustür hörte; ich erwog, die Aufnahme abzubrechen, besann mich aber gerade noch rechtzeitig, dass dies nicht mit dem Beginn eines neuen Lebens vereinbar wäre.
    David ließ sich auf das Sofa fallen und legte die Füße aufden Couchtisch – was Christine ihm nie, ich ihm immer erlaubte. Einen Moment lang hielt er den Kopf völlig still; wenn Menschen die Ohren spitzen könnten, hätte er sie gespitzt. Dann griff er nach der Fernbedienung des Fernsehers.
    »Ich dachte gerade, unser neues Auto sollte unbedingt einen CD -Spieler haben«, sagte ich.
    Ich war nicht sicher, ob er mich gehört hatte. Neben seinen Füßen auf dem Couchtisch lagen die Prospekte der Autohändler, bei denen ich am Nachmittag gewesen war: Volvo, Alfa Romeo, BMW , Audi, Mercedes, Land Rover … Die von Citroën und Fiat hatte ich nur mitgenommen, damit Christine sich in der Illusion wiegen konnte, die neue Anschaffung hielte sich finanziell einigermaßen in Grenzen. In Wirklichkeit war mein Entschluss längst gefasst. Das Blättern in den Prospekten würde jedoch einer Anhörung oder »breiten gesellschaftlichen Diskussion« ähneln, wo es vor allem darum geht, den Betroffenen das Gefühl zu geben, auch sie seien an der Entscheidungsfindung beteiligt.
    Ganz oben lag der Katalog des Jeep Cherokee. Auf dem Umschlag stand ein schwarzer Wagen in einer verlassenen, goldgelben Landschaft am Rand eines Abgrunds. Bereits am Nachmittag war mir dieser Ort irgendwie bekannt vorgekommen, wenn auch noch so, wie einem eben alle amerikanischen Landschaften bekannt vorkommen, als ein leinwandgroßes Déjà-vu. Inzwischen war ich mir aber absolut sicher, dass der Wagen vor demselben Abgrund stand, in den sich Susan Sarandon und Geena Davis in Thelma & Louise mit ihrem Auto stürzen, als sie von Harvey Keitel und dem FBI auf diesem gottverlassenen Stück roter Wüste eingekesselt worden sind. Die beiden Frauen fahren erst noch ein Stück zurück, um dann vor den Augen des fassungslosen Harvey Keitel mit Vollgas und durchdrehenden Rädern durch den aufstiebenden roten Sand auf den Abgrund zuzurasen.
    Am Nachmittag hatte ich ausgerechnet, was mich der Kauf eines Cherokee monatlich kosten würde, wenn ich einen Teil des Betrags gleich zahlte und den Rest in Raten. Jedes Mal, wenn ich den Anfangsbetrag nach oben korrigierte, senkte sich die monatliche Rate und umgekehrt. Worum es mir ging, war ein mehr oder weniger überzeugendes Gleichgewicht, bei dem sowohl der einmalige Betrag als auch die monatlichen Raten nicht allzu sehr auffallen würden.
    »Ich hab mir mal ein paar Autos angeschaut«, sagte ich. »Heute Mittag.«
    David spielte mit der Fernbedienung. Wenn er nicht reagieren würde, würde ich die Sache auf sich beruhen lassen.
    »Und?« Er löste seinen Blick sogar kurz vom Fernseher und sah mich an.
    »Ich weiß es noch nicht. Ich hab ein paar Prospekte mitgebracht.« Ich zeigte auf den Stapel. »Ich hol mir mal ein Bier, willst du auch eins?«
    Er starrte mich an. »Ein Bier? Warum nicht?«
    Als ich mit zwei Bierflaschen (ohne Gläser) aus der Küche zurückkam, blätterte er im obersten Prospekt, dem des Jeep Cherokee.
    »Der ist ziemlich cool«, sagte er und betrachtete ein Foto von einem schwarzen Cherokee, der mit den Rädern in einem halb zugefrorenen Bach stand. Im Hintergrund glänzten beschneite Gipfel (die Rocky Mountains?) unter einem strahlend blauen Himmel. Auf der nächsten Seite fuhr ein aus der Vogelperspektive fotografierter roter Cherokee in voller Fahrt durch eine ebenso rote Wüste. Er wirbelte eine Staubwolke auf, die zwischen zwei haushohen prähistorischen Felsformationen aus dem Bild verschwand. Es war die gleiche Landschaft wie auf dem Umschlag des Prospekts, der Abgrund

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