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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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Intuition oder Instinkt), aus welcher Ecke Gefahr droht, denn bevor er seine Schnauze in den Napf steckte, wendete er seinen müden Kopf nach oben und sah uns für den langen Bruchteil einer Sekunde an.
    »Nun, mach schon …«, sagte Frau de Bilde, die uns nicht bemerkt hatte. Sie zog ein Taschentuch aus der Schürze und schnäuzte laut und ausgiebig die Nase.
    »Wir fliegen in vierzehn Tagen für zwei Wochen nach Menorca«, sagte ich.
    Ohne den Blick von der Szene unten im Garten abzuwenden, nickte Max fast unmerklich ein paarmal. Frau de Bilde sah zu uns hinauf; sie runzelte die Stirn und kniff die Augenzusammen, als blendete sie das Licht. Dann zuckte sie mit den Achseln und schlurfte kopfschüttelnd zurück zur Tür.
    Max leerte seinen Whisky und sah mich an.
    »Wir fliegen am 16. Juli.«

3

1
    Das Hotel Miramar liegt acht Kilometer südlich von Ciutadella de Menorca an einer schmalen Einbuchtung der Küste, die hier im Westen der Insel fast überall senkrecht aus dem Meer ragt. Außer dem Hauptgebäude gibt es fünfzehn Apartements mit Wohnzimmer, offener Küche und Wintergarten im Parterre und Schlafzimmern und Badezimmer im ersten Stock.
    In unserer Erinnerung gab es oben drei Schlafzimmer, das größte mit Doppelbett hatte einen Balkon, in den anderen standen zwei Einzelbetten an den Wänden mit einem Nachttisch dazwischen.
    »War hier neben dem Badezimmer nicht noch ein kleines Schlafzimmer?«, fragte meine Frau stirnrunzelnd.
    Nathalie ging an uns vorbei und legte ihre Gitarre auf eines der Betten, sie strich sich die dünnen Haarsträhnen hinters Ohr und schüttelte sie wieder los. »Ich habe Lust zu schwimmen«, sagte sie zu David, der in der Tür stehen geblieben war. »Kommst du mit?«
    Am ersten Abend stellten wir fest, dass es noch mehr Dinge gab, die nicht mit unseren Erinnerungen vom letzten Jahr übereinstimmten. So versammelten sich abends um Viertel vor sieben Dutzende von Senioren vor der Tür des Speisesaals, der nach der Mitteilung auf dem SchwarzenBrett in der Lobby um sieben Uhr geöffnet wurde. Ich sah mich um: Alte so weit das Auge reichte. Sie warteten zwischen den Pflanzenkübeln und an dem kleinen Teich mit Goldfischen, Karpfen und Schildkröten, der neben dem Empfangsschalter angelegt worden war. Manche hatten sich hinter riesigen Aralien postiert, alle Blicke waren auf die Tür des Speisesaals gerichtet. Wie eine Herde an einem Wasserloch oder besser gesagt wie Tiere in einem Zoo, die gelassen darauf warten, dass sich eine Klappe öffnet, durch die ihnen der Wärter das Fressen zuwirft.
    »Waren letztes Mal auch so viele Alte hier?«, fragte Christine, die sich über ein Ehepaar ärgerte, das von hinten drängelte. Sie trugen diese ausgebeulten, schlabbrigen Klamotten, die man auf den ersten Blick nicht von Nachtwäsche unterscheiden kann, und verbreiteten einen penetranten Apothekengeruch. Etwas weiter hinten standen David und Nathalie und hielten sich an den Händen, Nathalie schmiegte ihren Kopf an die Brust meines Sohnes, der verträumt vor sich hin schaute.
    Im Speisesaal erwartete uns eine zweite unangenehme Überraschung. Vor einem Jahr, da waren wir uns absolut sicher, wurde man von äußerst höflichen, zuvorkommenden Kellnern bedient. Es gab eine Vorspeise, ein Hauptgericht und ein Dessert – oft ging dem Vorgericht noch eine sorpresa del jefe voraus, eine Pastete mit Anchovis oder ein Toastbrot mit kleinen Meeresschnecken. Aber jetzt gab es nur ein Büfett, vor dem sich sofort eine lange Schlange bildete. Die Senioren ließen sich Zeit und luden ihre Teller voll bis an den Rand; manche Ehepaare hatten sich ein System ausgedacht, bei dem einer am Büfett stehen blieb und der andere mehrmals volle Teller zum Tisch trug.
    »Was hast du vor?«, fragte meine Frau, als ich mich nicht anstellte, sondern auf einen Tisch für vier Personen zusteuerte.
     
    »Ich mach da nicht mit«, sagte ich und winkte einem Kellner, der offenbar die Getränkebestellungen aufnahm.
    »Aber du musst doch was essen!«, rief meine Frau aus einer Traube von Alten.
    Ich schüttelte den Kopf und gestikulierte »später«. Der Kellner war plötzlich verschwunden, und auch von David und Nathalie war keine Spur zu entdecken.
    Die Tische füllten sich, was aber das Gedränge am Büfett nicht verminderte. Ich hatte Lust auf ein Bier und eine Zigarette. Von den Nachbartischen wehte außer dem Apothekengeruch der Gestank von vollen Windeln herüber. Mit einem Ruck stand ich auf und zwängte mich an der

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