Odessa Star: Roman (German Edition)
nicht verstanden, ich hievte mich aus dem Liegestuhl und ging mit der Hand am Ohr zum Swimmingpool. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, aber ich war von der festen Überzeugung durchdrungen, ich hätte volles Recht, nicht sofort zu verstehen, was der Mongo gerufen hatte; er stand bis zum Bauch im Wasser, der Bund seiner blauen Badehose war gerade noch sichtbar. Aus der Nähe auch der Rotz unter seiner Nase.
In dem Moment, als ich den Beckenrand erreichte, fiel mir auf, dass außer uns keine Menschenseele in der Außenanlage war. Auch die Terrassen vor den Apartments und die Balkons im ersten Stock waren leer. Ja, wir waren mutterseelenallein, der Mongo und ich.
Während ich zum Liegestuhl zurückging und den Ball aufhob, überlegte ich, was ich zu tun hatte. Der Ball waretwas kleiner als ein Fußball und mit bunten Figuren aus einem mir unbekannten Zeichentrickfilm bemalt.
Ich warf mit aller Kraft, der Ball landete direkt vor dem runden, blassen Bauch des Mongos und spritzte ihn mit einem Schwall Wasser nass. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, packte er den Ball und warf ihn zurück. Ich sah mich noch einmal um, die Glastüren zur hinter dem Swimmingpool gelegenen Bar standen offen, aber auch dort war niemand.
Ich warf den Ball zurück und ging langsam zum Nichtschwimmerbereich, wo ein paar gekachelte blaue Stufen ins Wasser führten. Diesmal warf der Mongo den Ball so gezielt, dass ich ihn mit einer Hand aus der Luft fangen konnte. Ich ging die Stufen hinunter, bis ich bis zu den Knien im Wasser stand. Bei früheren Gelegenheiten hatte ich das Becken Hals über Kopf verlassen, wenn der Mongo sich mit seinem Ball vom Sprungbrett stürzte. Es lag nicht nur an der grünen Rotzblase, sondern auch an etwas anderem, weswegen ich mich ungern im selben Wasser aufhielt wie er.
Ich musste mich denn auch ziemlich zusammenreißen, als das Wasser mir bis zum Bauchnabel reichte; es fühlte sich an, als müsste ich ein Geldstück aus der Kloschüssel fischen, in die ich vorher gepinkelt hatte. Ich holte tief Luft und ging weiter. Jetzt warf der Mongo den Ball so fest, dass mir das Wasser in die Augen spritzte. Er lachte, schaukelte mit dem Oberkörper hin und her und schlug sich mit den Fäusten auf den Bauch. Ich lachte auch und warf den Ball in hohem Bogen zurück, er landete ein paar Meter hinter ihm, sodass er mir den Rücken zukehren musste.
So weit sah alles ganz normal aus. Jemandem, der jetzt auf die Anlage käme, würde nichts Besonderes auffallen. Die Großmutter würde vielleicht sogar dankbar sein, dass jemand mit ihrem Enkel spielte; womöglich würde sie mich für einen ganz netten Mann halten.
Ich lachte laut auf. Ein ganz netter Mann. Ich dachte an die Freundin meines Sohnes, der schon Tränen in die Augen kamen, wenn jemand etwas Schlechtes über gesunde Menschen sagte. Und gleichzeitig fragte ich mich, ob ein zufälliger Passant den Unterschied bemerken würde zwischen Nathalie und mir – den Unterschied zwischen jemandem, der aus einer unangebrachten Gutherzigkeit heraus mit einem Mongo spielt, und jemandem wie mir, einem ganz netten Mann?
Der Mongo stimmte in mein Lachen ein, wie Kinder sich manchmal von Erwachsenen anstecken lassen, und ich nutzte die Gelegenheit, näher an ihn heranzuschwimmen; offenbar nahm er an, dass ein neues Spiel angefangen hatte, denn er drehte sich um und schlug mit den Armen ins Wasser, als könnten die Wellen mich auf Distanz halten. Bis zu diesem Moment hatte ich keinen fest umrissenen Plan; ich hangelte mich sozusagen von einer Phase zur nächsten. Jederzeit konnte ich zu einer vorherigen zurückkehren oder sogar ganz aufhören.
Aber jetzt, während ich mich ihm fast unbemerkt näherte, wurde mir plötzlich klar, dass eine physische Berührung vielleicht etwas zu viel verlangt war, als müsste ich die Kotze von jemandem aufräumen, den ich kaum kannte. Ich ließ mich sinken, bis nur noch mein Kopf aus dem Wasser ragte; allerdings konnte ich immer noch stehen. Während ich mich vorsichtig Schritt für Schritt näher an ihn heranpirschte, musste ich an ein Krokodil denken, das sich einem am Ufer trinkenden Gazellenkitz für einen Baumstamm ausgibt. Aber was um alles in der Welt machte ich hier eigentlich? Vielleicht war ich tatsächlich ein ganz netter Mann? Aber nett zu wem? Menschen haben das angeborene Bedürfnis, sich an etwas zu binden: an ein Vögelchen mit gebrochenem Fuß, dem nicht mehr zu helfen ist, an kranke Tiere, die man eigentlich in Ruhe
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