Odessa Star: Roman (German Edition)
gesagt?«
Mein fünfzehnjähriger Sohn starrt einen Augenblick in seinen Kaffee; dann hebt er den Kopf und sieht mich an. »Erinnerst du dich noch an den Abend bei Onkel Jan und Tante Yvonne?«
»Welchen Abend?«, frage ich viel zu schnell und spüre, wie mir die Hitze in die Wangen schießt – ich kann nur hoffen, dass mein wahrer Gemütszustand nicht allzu sichtbar ist. Natürlich weiß ich, welchen Abend David meint.
»Als Wilco Tante Yvonne die Nase blutig geschlagen hat«, sagt er. »Wir saßen im Wohnzimmer, und das Fernsehen brachte die Nachricht, in Amsterdam sei ein Französischlehrer erschossen worden.«
»Ja, ja, jetzt erinnere ich mich«, sage ich und schüttle den Kopf über so viel Vergesslichkeit. »Natürlich.«
In Davids Blick meine ich, neben Mitgefühl auch so etwas wie Mutlosigkeit zu erkennen. »Wir saßen nicht alle vor demFernseher, nur du und Onkel Jan und Tamar. Ich stand hinter dir, du wolltest eigentlich nach Hause, aber noch schnell die Nachrichten sehen.«
»Ja.«
»Und da kam die Sache mit dem Mord, aber als der Name des Französischlehrers fiel und der der Schule, an der er unterrichtet hat, weißt du, was du da gesagt hast?«
Ich kneife die Augen zusammen, als müsste ich wirklich nachdenken. »Und? Was habe ich gesagt?«
»Nichts.«
»Nichts«, wiederhole ich etwas einfältig. Aber es stimmte, ich hatte tatsächlich nichts gesagt. Was hätte ich sagen sollen?
»Genau, nichts. Dabei war es doch deine Schule gewesen. Ich meine, vielleicht hast du diesen Lehrer ja nicht gehabt, aber es wäre doch normal gewesen, wenn du irgendwas gesagt hättest, zum Beispiel: Was, das ist doch meine alte Schule!«
»Ja, ja, richtig … meine alte Schule.«
David seufzt einmal tief auf. »Aber genau das hast du eben nicht gesagt. Ich kann mich noch so genau daran erinnern, weil ich dich beinahe gefragt hätte: Hör mal, Papa, ist das nicht deine alte Schule?, aber dann habe ich dein Gesicht gesehen.«
Ich versuche, mir meinen Gesichtsausdruck im Haus meines Schwagers vor knapp einem Jahr in Erinnerung zu rufen, es will mir aber nicht so recht gelingen. Jetzt wird mir also mein eigener Sohn erzählen, wie ich reagiert habe, als ich hörte, mein ehemaliger, nagelkauender Französischlehrer sei durch einen Kopfschuss getötet worden; weil mir Max G. noch ein Geburtstagsgeschenk schuldete – aber das wusste ich damals noch nicht.
»Du hast ein Gesicht gemacht, als hätte jemand gerade weit vor der Mittellinie ein Tor geschossen. Du hast sogar dieFaust geballt: Yes, der sitzt! Keiner hat es gesehen, ich schon. Und ein paar Tage später kommt dein alter Schulfreund Max bei uns vorbei, und so hast du ihn mir auch vorgestellt: mein alter Freund vom Erasmus-Gymnasium. Und dann machen wir Urlaub auf Menorca, und als wir nach Hause kommen, ist die Parterrewohnung leer. Und jetzt haben wir ein Haus mit Garten, und Frau de Bilde ist tot.«
»Moment mal. Keiner weiß, ob sie tot ist oder ob sie vielleicht irgendwo …«
»Ich schon.«
Ich sehe ihn an; irgendwo wird eine Balkontür geöffnet und wieder geschlossen.
»Und woher weißt du das?«, frage ich schließlich.
Mein Sohn schweigt einen Augenblick.
Dann sagt er: »Weil dein alter Schulfreund es mir erzählt hat.«
4
Wir waren noch drei Fragen von der Zehnmillionenfrage entfernt, als die Sendung durch Werbung unterbrochen wurde.
»Alles okay?« Erik Mencken beugte sich weit über den Tisch. »Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?«
Ich schüttelte den Kopf. Ein eiskaltes Bier oder etwas Stärkeres wäre jetzt das Richtige, aber ich musste einen klaren Kopf behalten; selten war ich in den vergangenen Monaten der totalen Erschöpfung so nah gewesen.
Während Mencken von der Visagistin zurechtgeschminkt wurde, sah ich kurz hinten im Studio Richard H. im Gang zur Garderobe; er hatte sein Handy am Ohr und schaute auf die Uhr.
»Man würde es nicht denken, aber es hilft garantiert gegen zu viel Schwitzen«, sagte die Visagistin, sie wickelte mir ein warmes, nasses Handtuch um den Kopf. Ihre Fingerspitzen drückten sanft gegen meine Augenlider.
Zum ersten Mal seit Menschengedenken war es jetzt dunkel, zur Abwechslung sah ich überhaupt nichts: keine Lampen und Kameras, nicht das Publikum auf der Tribüne, das bei jeder höheren Gewinnstufe lauter klatschte, und vor allem nicht Erik Menckens Visage und den schwülen Blick, wenn er mich mit seinen Gebärden zur richtigen Antwortzu lotsen versuchte. Bei den ersten drei Fragen hatte ich ihn
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