Odessa Star: Roman (German Edition)
zu Ende geht; dass uns Christine erst am Abend hier im Garten findet, friedlich eingeschlafen, und ihre Stimme uns weckt.Bleiben würde die Erinnerung an etwas, was besonders war, ohne dass man es benennen könnte.
»War er ein guter Freund?«, fragt David.
Ich sehe ihn an und tue so, als würde ich nachdenken. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann mein Sohn mir zuletzt so viele Fragen hintereinander gestellt hat; außerdem scheint sein Interesse aufrichtig. Auch das kam in letzter Zeit nicht sehr oft vor. Ich kann auf seinem Gesicht keine Spur von Ironie oder Langeweile entdecken. Es ist für ihn keine Pflichtübung, weil heute zufällig ein Bekannter – oder Freund – seines Vaters beerdigt wird.
»Es ist merkwürdig …«, sage ich und weiß schon nicht mehr weiter. Eigentlich würde ich David am liebsten, wie schon einmal, die ganze Geschichte erzählen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mit dem Kater, der mir auf den Schoß sprang? Ich weiß auch nicht, wo ich aufhören soll. Und deshalb haben wir jetzt ein Haus mit einem eigenen Garten … Unwillkürlich muss ich lachen. Mein Sohn schaut mich fragend an.
»Ach, ich musste an etwas Komisches denken«, sage ich. »Etwas Komisches mit Max … vor langer Zeit.«
Und dann fange ich doch bei unserer ersten Begegnung auf der Toilette des Erasmus-Gymnasiums an, seiner von unseren Hippie-Klamotten abweichenden Kleidung, die Marihuana-Tütchen im Scheinwerfer seines Mopeds … Ich erzähle David so gut ich kann von unseren Fantasien über den Französischlehrer und seine in der Bibliothek arbeitende Frau mit dem grauen Igelhaar.
David scheint ganz Ohr zu sein: Bei der Geschichte über den Französischlehrer muss er sogar ab und zu lachen.
»Wie heißt dein Erdkundelehrer noch mal?«, unterbreche ich meine Beschreibung von Biervoort, dem seine Frau die bleichen Arschbacken knetet. »Der mit der Friedensdemo-Tasche und dem Opel.«
»Verwoerd.«
»Ach ja, richtig. Verwoerd. Vielleicht solltest du das an ihm auch mal ausprobieren.«
»Was ausprobieren?«
»Dir vorstellen, wie er sich mit seiner Frau verlustiert. Hat er überhaupt eine?«
»Ich glaube schon.«
»Wahrscheinlich kocht seine Frau vegetarisch für ihn, wenn er von der Schule heimkommt. Vegetarisch kann ja gut schmecken, aber Leute, die auf Friedensdemos gehen, können nicht kochen. Es riecht ganz abscheulich nach Algen oder toten Pflanzen, aber Herr Verwoerd legt seine Stofftasche auf einen Stuhl und hat richtig Lust, gleich nach dem Essen seine Frau zu besteigen …«
»Papa …«
Zu spät merke ich, dass mein Sohn nur noch aus Höflichkeit mitlacht; er scheint sich mehr über mich als über meine Geschichte zu amüsieren.
»Ja, mein Junge?«
»Dieser Französischlehrer, wie hieß der eigentlich?«
Auf diese Frage gibt es zwei mögliche Antworten. Aber ich entscheide mich gleich gegen die, ihm einen falschen Namen zu nennen, sodass nur noch eine übrig bleibt. »Äh … wie hieß er noch?«, sage ich und runzle nachdenklich die Stirn. »Ach … es war ein ganz normaler Name … Biervoort! Ja, so hieß er! Biervoort! Genau der richtige Name für einen, der den ganzen Tag auf seinen Nägeln kaut.«
Ich lache schon wieder, aber Davids Gesicht bleibt ernst. »Neulich war im Fernsehen eine Sendung, in der kam ein Französischlehrer vor, der auch Biervoort hieß.«
Ich mache ein interessiertes Gesicht; zumindest hoffe ich es.
»Irgendeine Sendung über ungelöste Mordfälle, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.«
Innerlich verfluche ich mich, dass ich nicht besser aufgepasst habe: meistens stehen nämlich die Fälle, die in diesen Sendungen behandelt werden, am Tag selber in der Zeitung. Ich versuche mich an den Abend zu erinnern, an dem wir in den Nachrichten von dem Mord erfuhren. Ich sehe das Sofa im Haus meines Schwagers und meiner Schwägerin vor mir, links von mir saß mein Schwager und rechts seine Tochter – aber wo war David?
»Und?«, frage ich, damit die Stille nicht zu lange dauert.
David zuckt mit den Schultern. »Ach, der übliche Bullshit. Alle Ermittlungen sind im Sand verlaufen, Biervoort habe wahrscheinlich selber dem Mörder die Tür aufgemacht, denn man hat keine Spuren eines Einbruchs gefunden. Und jetzt würden sie sich mit den ehemaligen Schülern befassen, sie sollen sich melden, wenn sie sich an Mitschüler erinnern, die einen besonderen Groll gegen Biervoort hegten.«
Unwillkürlich muss ich lachen. »Einen besonderen Groll? Haben sie das
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