Odins Insel
direkt in die Augen, fast als hätte er die Anwesenheit des Fischers vergessen. »Wie Sie wissen, kam Kapitän Hans Adelstensfostre ungefähr im Jahr 1620 nach Altnorden. Soweit es mir herauszufinden gelungen ist, ist er vor irgendetwas in Südnorden geflohen. Aber was das genau war, habe ich nie erfahren. Vielleicht ist er geflohen, weil er Schulden hatte, vielleicht wegen einer kriminellen Handlung
oder vielleicht vor einer Frau, wer weiß?« Benjamin Adelstensfostre zuckte mit den Schultern und sah auf seine Schuhspitzen hinunter. Dann fing er wieder Sigbrit Hollands Blick ein. »Aber ich habe das Gefühl, dass Sie hier sind, um nach etwas anderem zu fragen?«
Sigbrit Holland wollte gerade antworten, als der Fischer Ambrosius sein Glas mit einem Knall auf den Tisch setzte.
»Ja, wir suchen nach etwas ganz anderem«, sagte er kurz und erklärte mit ungewöhnlich kalter Stimme, dass sie mitten in einer historischen Untersuchung des Verkehrs auf der Meerenge im 17. Jahrhundert steckten und deshalb gerne wissen wollten, ob Kapitän Hans Adelstensfostre Dokumente oder Tagebücher hinterlassen hatte, die vielleicht wichtige Informationen enthalten könnten.
Das war gelogen, und Benjamin Adelstensfostre wusste es. Sigbrit Holland konnte es an dem kurzen spöttischen Funkeln in seinen Augen sehen. Aber der junge Mann ließ sich nichts anmerken, und als der Fischer Ambrosius mit seiner Erklärung fertig war, antwortete er in dem gleichen leicht schleppenden sanften Tonfall wie zuvor.
»Leider kann ich Ihnen nicht helfen.« Er trank von seinem Holundersaft und fuhr dann noch immer ausschließlich an Sigbrit Holland gewandt fort. »Sehen Sie, nachdem Kapitän Hans Adelstensfostre nach Altnorden gekommen war, bekam er einen Sohn. Dieser Sohn bekam acht Kinder, von denen nur eins ein Junge war. Er erhielt den Namen Hans Henrik wie sein Vater. Der Sohn, Hans Henrik II., bekam selbst zwei Söhne und eine Tochter und wie es damals üblich war, wurde die Tochter verheiratet, der erstgeborene Sohn erbte alles und der andere zog in die Welt hinaus, um sein Glück zu versuchen, das er offenbar in Altnordens Hauptstadt, ja, hier in Fjordenhavn, fand.« Benjamin Adelstensfostre lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich befürchte, dass ich und die meisten anderen Adelstensfostres hier in der Umgebung von diesem zweiten Sohn abstammen.«
»Wissen Sie, ob noch jemand lebt, der von dem erstgeborenen Sohn abstammt?« Ambrosius gab sich ungeheure Mühe, freundlich zu sein.
»Da werden Sie nicht viel Glück haben«, sagte Benjamin Adelstensfostre schleppend. »Da waren zwei. Der eine, Oluf Adelstensfostre, ein Arzt, ist vor einigen Jahren gestorben. Soweit ich weiß, lebt seine Witwe, Asta Adelstensfostre, noch in Kristiansfjord, einer Stadt an der Westküste, ziemlich hoch im Norden. Ich bezweifle, dass sie im Stande ist, Ihnen mehr zu erzählen. Aber wer weiß, vielleicht hat der Mann ein paar Bücher hinterlassen.«
»Und der andere?«
»Ja, es waren Brüder. Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, aber warten Sie einen Augenblick…« Benjamin Adelstensfostre erhob sich und begann einige der Stapel mit Büchern und Papieren durchzugehen. Zu ihrer Überraschung fand er fast sofort das, wonach er suchte. Er setzte sich auf die Sofakante neben Sigbrit Holland.
»Der Stammbaum«, sagte er und faltete das Papier auseinander. »Sehen Sie, vor einigen Jahren hatte ich die Idee, die Fäden meiner Familiengeschichte aufzugreifen. Vielleicht merkwürdig, aber…« Er zuckte mit den Schultern, offensichtlich gleichgültig gegenüber dem, was seine Gäste dachten. »Sehen Sie, hier.« Er zeigte auf einen Namen. »Harald Adelstensfostre, ein Zwillingsbruder. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Ich habe mir einmal vorgenommen, alle Adelstensfostres aufzuspüren. Vielleicht war ich nur neugierig, vielleicht habe ich nach einer Familie gesucht – ich habe meine Eltern früh verloren.« Er machte eine ausladende Armbewegung, als wollte er damit sagen, dass das nicht ihr Problem sei. »Aber ihn hier habe ich nicht finden können. Er ist als junger Mann hinausgesegelt, da war etwas mit einem Mädchen, und niemand in der Familie wusste, was aus ihm geworden ist. Oder richtiger, sein Bruder Oluf wollte nicht darüber sprechen. Das war etwas merkwürdig, erinnere ich mich. Aber vielleicht ist er nur in einem fremden Hafen von Bord gegangen.« Benjamin Adelstensfostre machte eine Pause und sah sich den Stammbaum an. Dann schien ihm plötzlich
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