Odo und Lupus 01 - Demetrias Rache
ihre Anklagen herausschrie, die mich etwas ernüchterte. Ich habe schon oft an mir bemerkt, dass ich jede Art von Übermaß schwer ertrage. In solchen Fällen strebe ich beinahe unbewusst danach, den Dingen, die sich verwirren und aus den Fugen zu geraten drohen, wieder irgendwie Klarheit und Stabilität zu geben. Meine Betroffenheit verwandelte sich in teilnehmende Neugier und ich begann wieder zu beobachten.
Gleich fiel mir auf, dass mir schon beim ersten Blick auf das Opfer etwas gefehlt hatte. Ich vermisste das Kreuz mit dem feurigen Stein, das die Tote am Hals getragen und das sich so auffällig und vollendet zu ihrer edlen, frommen, stillen Erscheinung gefügt hatte. Wo war es? Auf dem Ruhebett und der Bank, den einzigen Möbeln im Raum, war nichts zu entdecken. Es gab hier nicht einmal eine Truhe. Die Wände waren bis unter das Dachgebälk mit bunt gemusterten Teppichen behängt. Lediglich unterhalb der winzigen Fensteröffnung fehlte einer, von dem an einem dicken Nagel nur noch ein Fetzen hing.
Man konnte nun allerdings leicht feststellen, dass die Kammer höchstens ein Drittel des Raumes einnahm, den man jenseits der vom Saal aus sichtbaren Wand, welche sich hinter der Pfeilerreihe in ihrer ganzen Breite erhob, vermuten musste. Hinter einem der Teppiche war daher wohl eine Tür versteckt, die in eine zweite, größere Kammer führte. Diese konnte dann nur von dem Raum aus erreichbar sein, in dem wir uns gerade befanden. Ich hatte bisher selten Gelegenheit gehabt, mich in Saalhäusern wie diesem umzusehen. Nach allem, was ich gehört hatte, waren solche gewissermaßen unsichtbaren Räume die Schatzkammern der Besitzer. Man schlief im Vorzimmer, um persönlich zu wachen.
Ich hatte mich so weit gefasst, dass ich nun auch die Tote genauer ansehen konnte. Ich trat an das Ruhebett und beugte mich über sie. Auf meiner Pilgerreise nach Rom habe ich viele Menschen gesehen, denen Gewalt angetan wurde, Opfer von Wirtshausstreitereien, Raubüberfällen und sogar von Eifersucht und Hass unter Pilgern. Manchem auf solche Weise Gestorbenen konnte ich vor seinem Ende noch christlichen Beistand leisten.
Ich erkannte nun, dass die schöne junge Frau Chrodelind womöglich erdrosselt worden war, denn ein breiter, blutunterlaufener Streifen, an dessen Rändern die Haut beschädigt war und Kratzer und Schrammen aufwies, war der tödliche Schmuck ihres Halses. Das kupferrote Haar, in dem noch die Diamantenspange steckte, das aber jetzt ungeordnet herab wallte, ließ die Verletzung nur zum Teil sehen. Ich hätte es gern beiseite gestrichen und auch das Kleid über die Schultern zurück gestreift, um sie genauer untersuchen zu können. Doch das wagte ich nicht, weil ich fürchtete, man könnte mich, der ich die Mönchskutte trug, eines unreinen Gelüsts verdächtigen. So nahm ich ein Fell und breitete es über den Leib und die Beine der Toten. Und dann löste ich ein kleines bronzenes Kreuz, das ich am Hals trug, und legte es anstelle des anderen, das ich vermisste, auf die Brust der Toten.
Odo, der vor Empörung und Ungeduld schäumte, forderte mich durch ein Zeichen auf, ihm nach draußen zu folgen.
„Du bist doch auch der Meinung, dass wir jetzt nicht einfach weiterreisen können“, sagte er, als wir auf einen Baum zu schritten, an dem Impetus festgebunden war. „Eine Untat, die nach Vergeltung schreit! Ich schlage vor, dass du hier wartest, während ich den Kerl verfolge. Er könnte einen beträchtlichen Vorsprung haben. Falls er gewagt hat, in der Nacht aufzubrechen, hat er vielleicht schon ein paar Meilen gewonnen. Aber es nützt ihm nichts, er entkommt mir nicht!“
„Willst du etwa allein reiten?“
„Ich fürchte mich nicht vor feigen Mordbuben.“
„Und wie willst du ihn herbringen?“
„Wird das nötig sein?
„Was heißt das? Du hast doch nicht etwa vor, an Ort und Stelle mit einem Zweikampf …“
„Er verdient nicht, dass lange gefackelt wird!“
„Du bist nicht bei Verstand! Du musst Geduld haben. Zuerst muss er vor Gericht gestellt werden. Nur wenn das Urteil auf Zweikampf lauten sollte, ist so etwas statthaft. In dem Fall aber müsste der Kläger oder ein Vertreter des Klägers das Schwert führen. Das alles weißt du genau. Also bezähme dich!“
„Bezähmen! Geduld! Alles Pfaffengeschwätz!“ Er packte mich am Arm und blickte mir zornig in die Augen. „Haben wir den Auftrag, für Ordnung zu sorgen?“
„Gewiss …“
„Die Verbrecher zu bestrafen? Antworte!“
Ich befreite sich von
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