Odo und Lupus 04 - Die Witwe
Frau mit einem langen dunklen Gewand, das auch ihre Füße bedeckte. Die Mitte des Leibes umschloß ein Gürtel mit goldenen Beschlägen, an dem verschiedene Glücksbringer und ein Kamm, jedoch keine Schlüssel hingen.
Die beiden Knechte, die mit dem leichten Gewicht ihrer schlanken, fast zierlichen Herrin wenig Mühe hatten, trugen den Stuhl an den Tisch der Frauen.
„Meine Schwägerin Luitgard“, sagte Herr Garibald. „Die Witwe meines unglücklichen Bruders. Die Mutter der beiden Knaben dort.“
Die beiden ‚Knaben‘ Allard und Hug, die diese Worte mitgehört hatten, lachten auf, verstummten aber sofort nach einer heftigen Geste ihres Onkels. Zweifellos handelte es sich um ihre Stiefmutter, denn Frau Luitgard konnte nicht sehr viel älter sein als sie selbst.
„Sie ist die Tochter eines Adalings aus sehr alter Familie“, fuhr Herr Garibald fort. „Hermenefred, den letzten König der Thüringer, zählt sie zu ihren Ahnen.“
Die Knechte setzten den Stuhl an einer Schmalseite des Tisches nieder, so daß Frau Luitgard uns zugewandt saß. Odo erhob sich und machte ihr eine Reverenz. Ich folgte seinem Beispiel. Sie dankte jedem von uns mit einem leichten Neigen des Kopfes, ohne jedoch die Miene zu verziehen oder die Lippen zu bewegen.
In diesem Augenblick rief einer aus der Horde der jungen Adalinge uns zu:
„Wenn Ihr den Nachfahren König Hermenefreds aufsucht, vergeßt nicht, einen Sack Korn mitzunehmen! Zum Mahlen!“
Die jungen Kerle brachen in ein höhnisches Gelächter aus, doch nur kurz, denn Garibalds Faust krachte auf den Tisch, daß die Schüsseln tanzten und Becher umkippten und ihren Inhalt auf den Boden ergossen. Wir nahmen wieder Platz, und als wollten alle den peinlichen Zwischenruf rasch vergessen machen, setzten sie ihre Gespräche fort. Auch der Hausherr tat, als sei nichts gewesen.
„Hättet Ihr meine Schwägerin Luitgard früher gekannt, meine Herren, würdet Ihr wahrhaftig betroffen sein. Sie war eine Frohnatur, lachte und sang den ganzen Tag lang. Und nun seht sie Euch an … wie blaß, wie betrübt sie ist! Seit dem Tode ihres Gemahls tut sie kaum noch den Mund auf. Ihr einziger heißer Wunsch ist, den Mörder endlich bestraft zu sehen. Obwohl es sich um ihren Bruder handelt.“
„Ihren Bruder?“ fragten Odo und ich wie aus einem Munde.
„Ja. Dieser Irmo – Allard nannte Euch ja vorhin schon den Namen – ist der ältere Bruder meiner Schwägerin. Sie haßt ihn! Nun, das versteht sich für eine Frau, die ihren Gemahl über alles liebte. Könnte sie tun, wonach ihr der Sinn steht, würde sie selber blutige Rache nehmen. Daran zweifle ich nicht im geringsten! Doch wir wachen natürlich darüber, daß sie vernünftig bleibt. Am meisten erfüllt mich mit Sorge, daß sie kaum noch ißt und trinkt. Ich habe den dunklen Verdacht, sie darbt mit Absicht, um ihrem Gemahl so schnell wie möglich ins Grab zu folgen. Ach, nicht einmal dort werden sie vereint sein!“
Herr Garibald schüttelte bekümmert den Kopf und zerdrückte eine Träne im Augwinkel.
Ich beobachtete die Frau Luitgard verstohlen. Sie saß in der Tat stumm wie eine Statue da. Regungslos war das marmorbleiche Gesicht, soweit es der braune Haarvorhang preisgab. Man hatte Speisen vor sie hingestellt, auch einen Becher mit Wein für sie gefüllt, doch sie rührte nichts an. Die anderen Frauen am Tisch, die Hausherrin und die Alte, schwiegen jetzt ebenfalls, nachdem sie vorher recht lebhaft geschwatzt hatten, und es schien mir, daß sie der Witwe verstohlene, wenig freundliche Blicke zuwarfen. Auch die Meinrade hatte ihr Engelsgesicht verzogen, als sei das Hühnerkeulchen, das sie benagte, mit Essig getränkt.
Es versteht sich von selbst, daß die Witwe auch meinen Freund Odo beschäftigte. Als Verehrer des weiblichen Geschlechts, der – Gott sei es geklagt – seine freie Zeit bei Hofe vor allem damit verbringt, die Prinzessin Rotrud anzuseufzen und Abenteuer mit edlen Frauen zu suchen, hatte er zweifellos nicht erwartet, in dieser Wildnis eine solche Kostbarkeit vorzufinden. Er begann sofort, Garibald auszufragen und sich näher nach ihr zu erkundigen. Wir erfuhren, daß Frau Luitgard wohl an die zweiundzwanzig Jahre alt war und erst seit zwei Jahren im Rabennest lebte. Bardo, Garibalds älterer Bruder, habe damals seine Gemahlin verloren, die wirkliche Mutter von Allard und Hug, und bei Herrn Meginfred, dem Nachkommen der Könige, um seine Tochter geworben. Die Werbung sei dankbar aufgenommen worden, und
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