Odo und Lupus 04 - Die Witwe
Grafen mit den Hufebauern der Umgebung veranstaltet hätten, sei er als Sieger hervorgegangen.
„De mortuis nil nisi bene!“ {12} zitierte Herr Rothari lächelnd. Später führte uns der Graf auf seinen Olymp.
So bezeichnete er scherzhaft einen Aussichtspunkt, von dem aus er sein Herrschaftsgebiet, den Tannengrund, vollkommen überblicken konnte. Es handelte sich um eine hohe alte Linde, die wir nach einem kurzen Marsch einen Bergpfad hinauf erreichten. In deren Krone hinein war nicht weit unter dem Wipfel eine Plattform aus dünnen Stämmen gezogen, zu der man mit Hilfe einer Leiter hinaufstieg und wo eine Bank stand. Hier ließen wir uns nieder, im kühlen Schatten, vom dichten, leise raschelnden Blattwerk umfächelt, und genossen tatsächlich einen Blick, der auch die alten olympischen Götter (einmal angenommen, daß es sie gab) entzückt hätte. Herr Rothari hatte von einem Diener einen Korb mit Wein und Backwerk heraufbringen lassen, so daß es uns dort oben wahrhaftig an nichts mangelte. Er gestand uns, daß er in der freundlichen Jahreszeit den größten Teil des Tages an diesem Platz verbringe, mit einer Wachstafel oder mit einem Buch. Sogar Verse seien ihm hier ab und zu eingefallen. Von diesen wollte er uns auch gleich eine Probe geben, und ich setzte mich schon bequem zum Hören zurecht, die Hände behaglich über dem Bauch gefaltet … doch da war es Odo endgültig zuviel. Recht unhöflich unterbrach er den Grafen. Er deutete auf den schwarzen Felsen rechts oberhalb unseres Standorts, aus dem die uns wohlbekannte fingerartige Erhebung herauswuchs, und sagte:
„Das scheint mir da drüben das Rabennest zu sein!“
„So ist es“, erwiderte der Graf, bemüht, keine Verstimmung zu zeigen, „und dort habt Ihr den Adlerhorst, etwas weiter die Habichtsburg und, wenn Ihr nach links hinüberblickt, den Geierkamm. Das klingt poetisch, aber die Vögel, die dort nisten …“
„… sind schwer zu zähmen“, vollendete Odo. „Oder habt Ihr es gar nicht versucht?“
Ich hätte ihn jetzt am liebsten gegen das Schienbein getreten, aber der Graf saß zwischen uns.
Rothari seufzte vernehmlich und sagte:
„Ich will Euch gern zuhören, Herr Odo, wenn Ihr mich lehren könnt, wie man das macht: solche Vögel zu zähmen. Ich bin froh, daß ich es geschafft habe, im Namen des Königs das Tal zu beherrschen. Die Herren auf den Felsenburgen da oben leben seit je nach ihren eigenen Gesetzen, und ich habe noch nicht die Mittel gefunden, um sie daran zu hindern. Fragt Ihr sie, werden sie jeden Eid schwören, daß sie treue Vasallen des Königs seien. Aber ein Bußgeld zu zahlen, fällt ihnen nicht ein, Weisungen nehmen sie nicht zur Kenntnis. Was soll ich machen? Gegen sie Krieg führen? Mit meinen fünfundzwanzig Gefolgsleuten?“
„Herr Garibald beschwert sich darüber“, entgegnete Odo, „daß Ihr keine Gerichtsversammlungen einberuft, wo er Klage führen kann.“
„Nun, Ihr werdet nach allem, was Euch widerfahren ist, den Garibald kaum als vertrauenswürdig bezeichnen. Die Rabennestleute sind von allen die Schlimmsten, doch das nebenbei. Ich führe dreimal im Jahr ein ungebotenes Ding durch, wie es üblich ist. Das nächste ist im September fällig, bei Vollmond, also in fünf Wochen. Garibald weiß das, doch er verlangt ein gebotenes Ding. Warum? Wahrscheinlich will er sich wichtig machen. Als ob er mit seiner Klage, die ohnehin auf schwachen Füßen steht, nicht noch fünf Wochen warten könnte! Ich sehe jedenfalls keinen Anlaß, den Bauern jetzt, in der Erntezeit, eine Versammlung zuzumuten. Ich richte mich nicht nach diesen Herren, die nur vor Gericht erscheinen, um Klage zu führen, nie aber, wenn sie angeklagt werden. Was weit häufiger vorkommt, versichere ich Euch!“
Zum ersten Mal hatte der Graf ein wenig die Beherrschung verloren und seinem Unmut Luft gemacht. Eine unbehagliche Pause entstand. Ich hätte nun gern das Thema gewechselt und wollte ihn schon daran erinnern, daß er uns noch seine Verse schuldete, aber Odo kam mir zuvor. Er deutete abermals zum Rabennest hinauf und sagte:
„Angeblich ist Garibalds Bruder – er hieß wohl Bardo – kürzlich in Sachsen ermordet worden. Ihr glaubt, daß eine Klage auf schwachen Füßen stünde?“
„Ich übertrieb, als ich sagte, auf schwachen Füßen“, erwiderte Herr Rothari. „Sie steht auf gar keinen. Ein gewisser Nandolf, den ich früher schon wegen Heimsuchung und wegen Wilddieberei verurteilt hatte, gab sich zunächst dazu her, den
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