Odo und Lupus 04 - Die Witwe
Jetzt versucht es Hug mit dem Pfeilschuß, verfehlt aber. Der erschrockene Allard springt auf und macht zwei Schritte rückwärts. Zwei Schritte – das sah ich genau! Irmo wendet sich zu ihm hin, streckt den Arm aus – und Allard stürzt ab. Als ich hinaufsteige, stelle ich fest, daß man fünf, sogar sechs Schritte machen kann. Wer nach zwei Schritten ausgleitet, kann nicht abstürzen. Er muß dazu einen kräftigen Stoß bekommen.“
„So hatte Garibald recht, als er herumlief und alle fragte: ‚Habt ihr's gesehen?‘“
„Er wußte ja ebensogut, daß man nicht schon nach zwei Schritten abstürzen kann.“
Wir schwiegen. Ich putzte noch meine Sandalen, während Odo seine Wadenbänder auswusch. Das ist sonst Arbeit für Rouhfaz, aber der lag, von den Anstrengungen der letzten Nacht erschöpft, bereits auf seinem Strohsack und schnarchte.
„Und was machen wir nun, wenn Garibald klagt?“ fragte ich schließlich. „Wirst du dein Zeugnis widerrufen?“
Mein Freund dachte einen Augenblick nach.
„Er wird nicht klagen. Hast du auf seinen Blick beim Abschied geachtet? Er erhofft jetzt nichts mehr von uns. Wir sind nur noch gottverfluchte Franken für ihn, von denen nie etwas Gutes kommt, schon gar nicht Gerechtigkeit.“
„Aber irgend etwas wird er doch tun!“
„Das fürchte ich allerdings auch“, sagte Odo.
7
W enn Irmo tatsächlich ein zweifacher Totschläger war, so hatte ich vorher nie einen kennengelernt (und ich habe auf meinen Reisen als Königsbote manchem, der mehrfach gemordet hatte, Auge in Auge gegenübergestanden), dessen äußere Erscheinung so eindrucksvoll und dessen Wesen so heiter und gewinnend war. Es stellte sich bald heraus, daß Irmo schon jetzt sowohl auf dem Allod {17} als auch auf den Amtsgütern des Grafen die nahezu uneingeschränkte Weisungsbefugnis hatte, denn Rothari kümmerte sich um nichts und ließ ihn gewähren, und der betagte Verwalter traf keine Entscheidung, ohne den jungen Vasallen und Anführer der gräflichen Gefolgschaft vorher gefragt zu haben. So kam es, daß auch wir schließlich mehr mit dem Irmo als mit dem Grafen zu tun hatten, durchaus nicht zu unserm Bedauern. Es gab keinen besseren Kenner der Verhältnisse und keinen, der uns wortgewandter mit ihnen vertraut machen konnte. Er führte uns durch den Tannengrund wie durch seinen eigenen Garten, er kannte jede Hütte und jeden Strauch und natürlich jeden Bewohner, auch den geringsten, er wußte von den Sorgen der Leute und brachte sie durch seine fröhliche, vertrauenerweckende Art sogar dazu, sich auch uns aufzuschließen. Manches eigenartige Gewerbe lernten wir kennen. So machen sie hier aus Hirschgeweih, das es im Überfluß gibt, die prächtigsten Kämme, wie überhaupt aus diesem Rohstoff allerlei nützliche Gegenstände hergestellt werden. Auch kunstfertigen Schmieden habe ich über die Schulter gesehen, die zwar ein minderwertiges, weil etwas kupferhaltiges Eisen verarbeiten, doch wahre Wunderwerke von zierlich gestalteten Fibeln, Knöpfen und Schnallen zustande bringen.
Wahrhaftig, so etwas würde auf einem Markt in Frankfurt, Köln oder Soissons reißenden Absatz finden, doch sie machen es nur für sich oder ihre Herrschaft, ganz selten verkaufen sie etwas an einen Händler, der sich mit seinem Esel über die Berge gequält hat. Dies brachte uns immer wieder auf unser wichtigstes Anliegen, nämlich die Straße, und auch dabei fanden wir in Irmo den beredtsten und ideenreichsten Verbündeten. Eines Morgens legte er uns zu unserer Überraschung ein Pergament mit einem Plan des Tannengrunds und seiner Umgebung vor, auf dem der mögliche Verlauf der Straße schon bis in die letzte Einzelheit skizziert war. Fräulein Eddila hatte die Zeichnung gemacht, nach seinen Angaben. Die Namen derer, die man zur Rodung verpflichten mußte, waren vermerkt, sogar die Zahl der von jedem benötigten Knechte war schon errechnet. Irmo erbot sich sofort, einige kleinere Gutsbesitzer und Hufebauern für das Unternehmen zu gewinnen, und meldete noch am selben Abend Erfolg. Was die größeren Herren betraf, so gab er offen zu verstehen, daß hier nur lange, geduldige Überzeugung, gepaart mit Druck, etwas ausrichten könne.
Es ist seltsam, aber auch mit den Rechtsverhältnissen in der Grafschaft wurden wir durch den mutmaßlichen Totschläger Irmo am besten und gründlichsten vertraut gemacht. Eine ‚Lex Thuringorum‘ ist ja bisher noch nicht geschrieben {18} , und so war ich auf dieser Reise eifrig bemüht, an
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