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Odo und Lupus 04 - Die Witwe

Odo und Lupus 04 - Die Witwe

Titel: Odo und Lupus 04 - Die Witwe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Gordian
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allen Orten, wo wir uns aufhielten, Notizen über landeseigentümliche Rechtsbräuche zu machen. Denn der Herr Karl, unser König, hat uns ausdrücklich verpflichtet, die alten Volksrechte zu studieren und sie nach Möglichkeit anzuwenden. Als wir nun unter Irmos Führung unsere Erkundungsgänge machten, geschah es manchmal, daß man uns, sobald wir als hohe Gerichtsherren vorgestellt waren, unverzüglich und ohne Scheu einen Streitfall vortrug. Und nicht selten gerieten wir dann in Verlegenheit. Wer erbt die Fahrhabe und die Unfreien, wenn weder Söhne noch Töchter vorhanden sind? Wir hätten dem aufgeregten Bruder des Toten, der sich betrogen fühlte, gern alles zugestanden. Doch Irmo belehrte uns alle freundlich, daß in diesem Fall die Schwester, dann aber auch noch die Mutter Vorrang habe. Wann geht andererseits das Grunderbe, wie man sagt, ‚vom Speer auf die Spindel‘ über? Zwei weinende Schwestern, die die Bergweide ihres verstorbenen Vaters beanspruchten, erfuhren von Irmo – nicht von uns –, daß der entfernte Vetter, der dort bereits seine Ziegen hütete, nicht zu vertreiben sei. Hier erbt nämlich eine Tochter erst Grundbesitz, wenn in der Familie bis ins fünfte Glied keine Männer mehr aufzutreiben sind.
    Einen possenhaften Fall von Heimsuchung und Diebstahl entschied Irmo gleich auf der Stelle. Die Gemahlin eines kleinen Adalings, der seit drei Tagen auf Bärenpirsch war, empfing uns im Bett unter einem Schaffell, das ihre Nacktheit bedecken mußte. Keinen Fetzen habe sie mehr zum Anziehen, zeterte sie. Am Abend zuvor, nach Einbruch der Dunkelheit sei ihr Nachbar mit drei Brüdern und fünf Söhnen bei ihr eingebrochen, habe Möbel, Teller und Krüge zerschlagen und ihre Kleidertruhe fortgeschleppt. Nun warte sie hilflos auf die Rückkehr ihres Gemahls, des Bärenjägers. Wir begaben uns gleich zu dem Nachbarn und kamen wahrhaftig darauf zu, wie sich die ganze Familie um die Truhe drängte, aus der die Weiber Hemden, Röcke, Gürtel und Strümpfe herauszerrten und kreischend und zankend untereinander verteilten. Zur Rede gestellt, beschwor der erschrockene Hausherr, nur Gleiches mit Gleichem vergolten zu haben. Denn nackt und ungeschützt sei nun auch die Frau nebenan – so wie er selbst, nachdem jene ihm den Hofhund vergiftet habe, aus Rache für angeblich gerissene Hühner. Natürlich konnte er nichts beweisen, und Irmo befahl denn auch gleich, die gestohlenen Kleidungsstücke wieder einzusammeln und die Truhe zurückzutragen. Und dann maß er jedem der Diebe ein Bußgeld zu, klug abgestuft nach dessen Stellung in der Familie, aus der sich ergab, wie weit er verantwortlich oder abhängig war. Daß es dazu keinen Widerspruch gab, mochte unsere Gegenwart mitbewirkt haben. Doch mich erstaunte die Sicherheit, mit der dieser Irmo ohne zeremoniellen Aufwand, auf dem Hof eines Hufebauern zwischen Hühnern, Gänsen und Schweinen ‚im Namen unseres Herrn Königs und des Herrn Grafen‘ Recht sprach, als habe er Zeit seines Lebens nichts anderes getan. Alle um Haupteslänge überragend, ging er unter den Übeltätern umher, den einen am Bart, den anderen am Schopf packend, die zürnende Gerechtigkeit in Person, dann aber auch wieder nachsichtig scherzend, ihre Habsucht verspottend, so daß sie aufatmen und sich wie Kinder fühlen durften, die man nur bei einer Dummheit ertappt hat. Niemand schien ihm am Ende gram zu sein, trotz der Strafen. Er hatte die natürliche Autorität des geborenen Anführers, dessen Spruch man sich beugt.
    Dies entging natürlich auch Odo nicht. Ich erwähnte schon, daß er und Irmo einander in mancher Beziehung ähnlich waren. Auch Odo besitzt ja die Eigenschaften eines begnadeten Vorsängers, dem der Chor bei der Weise, die er anstimmt, stets willig Gefolgschaft leistet. In den zehn, zwölf Tagen seit unserer Ankunft hatte Odo seine Ansicht über den Irmo ein weiteres Mal geändert – nicht vollständig, doch in einigen wichtigen Punkten. Kein Zufall war es daher, daß er an einem Abend, als wir wieder gemeinsam am Brunnen hockten, zunächst auf seinen Ahnen Chlodwig, den berühmten Reichsgründer, zu sprechen kam.
    „Das war ein großer Mann“, sagte er, während er mit einem Messer die Nägel seiner Füße kürzte. „Einer, der tat, was notwendig war. Auch wenn ihn die Tintenverspritzer später dafür geschmäht haben.“
    „Du meinst den Bischof Gregor von Tours, der Chlodwigs Taten beschrieben hat. Er berichtet allerdings einige Greueltaten. Glaubst du denn,

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