Odyssee: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Tochter,
Streichelt’ ihn mit der Hand und schien nun plötzlich ein Mädchen,
Schöngebildet und groß und klug in künstlicher Arbeit.
Und sie redet’ ihn an und sprach die geflügelten Worte:
Geist erforderte das und Verschlagenheit, dich an Erfindung
Jeglicher Art zu besiegen, und käm auch einer der Götter!
Überlistiger Schalk voll unergründlicher Ränke,
Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung
Und erdichtete Worte, die du als Knabe schon liebtest?
Aber laß uns hievon nicht weiter reden, wir kennen
Beide die Kunst; du bist von allen Menschen der erste
An Verstand und Reden, und ich bin unter den Göttern
Hochgepriesen an Rat und Weisheit. Aber du kanntest
Pallas Athene nicht, Zeus’ Tochter, welche beständig,
Unter allen Gefahren, dir beistand und dich beschirmte
Und dir auch die Liebe von allen Phaiaken verschaffte.
Jetzo komm ich hieher, um dir Anschläge zu geben
Und zu verbergen das Gut, so viel die edlen Phaiaken
Dir Heimkehrendem schenkten, durch meine Klugheit geleitet;
Auch zu verkünden, daß deiner im schöngebauten Palaste
Viele Drangsal noch harrt. Doch du ertrage sie standhaft
Und entdecke dich keinem der Männer oder der Weiber,
Daß du von Leiden verfolgt hier ankamst, sondern erdulde
Schweigend dein trauriges Los und schmiege dich unter die Stolzen.
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
Schwer, o Göttin, erkennt dich ein Sterblicher, dem du begegnest,
Sei er auch noch so geübt; denn du nimmst jede Gestalt an.
Dennoch weiß ich es wohl, daß du vor Zeiten mir hold warst,
Als wir Achaier noch die hohe Troja bekriegten.
Aber seit wir die Stadt des Priamos niedergerissen
Und von dannen geschifft und ein Gott die Achaier zerstreuet,
Hab ich dich nimmer gesehn, Zeus’ Tochter, und nimmer vernommen,
Daß du mein Schiff betratst, mich einer Gefahr zu entreißen;
Sondern immer, im Herzen von tausend Sorgen verwundet,
Irrt ich umher, bis die Götter sich meines Jammers erbarmten:
Außer daß du zuletzt in dem fetten phaiakischen Eiland
Mich durch Worte gestärkt und zu der Stadt mich geführt hast.
Jetzo fleh ich dich an bei deinem Vater (ich fürchte
Immer, ich sei noch nicht in Ithaka, sondern durchirre
Wieder ein anderes Land, und spottend habest du, Göttin,
Mir dies alles verkündet, um meine Seele zu täuschen):
Sage mir, bin ich denn wirklich im lieben Vaterlande?
Drauf antwortete Zeus’ blauäugichte Tochter Athene:
Stets bewahrest du doch im Herzen jene Gesinnung;
Darum kann ich dich auch im Unglück nimmer verlassen,
Weil du behutsam bist, scharfsinnig und männlichen Herzens.
Jeder irrende Mann, der spät heimkehrte, wie freudig
Würd er zu Hause nun eilen, sein Weib und die Kinder zu sehen!
Aber dich kümmert das nicht, zu wissen oder zu fragen,
Eh du selber dein Weib geprüft hast, welche beständig
So im Hause sitzt; denn immer schwinden in Jammer
Ihre Tage dahin und unter Tränen die Nächte.
Zwar ich zweifelte nie an der Wahrheit, sondern mein Herz war
Überzeugt, du kehrtest ohn alle Gefährten zur Heimat;
Aber ich scheute mich, Poseidon entgegen zu kämpfen,
Meines Vaters Bruder, der dich mit Rache verfolgte,
Zürnend, weil du das Auge des lieben Sohnes geblendet.
Aber damit du mir glaubest, so zeig ich dir Ithakas Lage.
Phorkys, dem Greise des Meers, ist dieser Hafen geheiligt;
Hier am Gestade grünt der weitumschattende Ölbaum;
Dieses ist die große gewölbete Grotte des Felsens,
Wo du den Nymphen oft vollkommene Opfer gebracht hast;
Jenes hohe Gebirg ist Neritons waldichter Gipfel.
Sprach’s und zerstreute den Nebel, und hell lag vor ihm die Gegend.
Siehe, da freuete sich der edle Dulder Odysseus
Herzlich des Vaterlandes und küßte die fruchtbare Erde,
Und nun fleht’ er den Nymphen mit aufgehobenen Händen:
Zeus’ unsterbliche Töchter, ihr hohen Najaden, ich hoffte
Nimmer, euch wiederzusehn; seid nun in frommem Gebete
Mir gegrüßt! Bald bringen wir euch Geschenke wie ehmals,
Wenn mir anders die Gnade von Zeus’ siegprangender Tochter
Jetzo das Leben erhält und den lieben Sohn mir gesegnet!
Drauf antwortete Zeus’ blauäugichte Tochter Athene:
Sei getrost und laß dich diese Gedanken nicht kümmern!
Aber wohlan, wir wollen im Winkel der heiligen Grotte
Gleich verbergen das Gut, damit es in Sicherheit liege,
Und uns dann beraten, was jetzo das Beste zu tun sei.
Also sprach die Göttin und ging in die dämmernde Grotte,
Heimliche Winkel umher ausspähend.
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