Ödland - Thriller
aufgeschichtet. Im eisigen Mondlicht sehen Kräne und Planierraupen wie schlafende Drachen aus.
Sie passieren den Europarat, der an einen überdimensionalen Legostein erinnert - weiß, eckig und von abgedunkelten Fenstern unterbrochen; so baute man am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Schließlich biegen sie auf den Parkplatz eines kleinen Bruders des großen Legosteins ab, der unmittelbar am Kanal liegt und den pompösen Namen »Palais des Associations« trägt. Die meisten Hilfsorganisationen haben hier ihren Hauptsitz, um ihren Lobbyisten die Arbeit vor Ort beim Europarat oder dem Europäischen Parlament zu ermöglichen. Letzteres erhebt sich wie ein immenses gläsernes Kuchenstück am linken Ufer der Ill und ist zuständig für die Vergabe von Subventionen für humanitäre Aufgaben. Hier hat Laurie all ihre Einsätze begonnen und beendet; in gewisser Weise sieht sie das Gebäude als ihren Arbeitsplatz an - vor allem das Büro von SOS Europa mit der Nummer 106. Und genau aus diesem Grund gefällt es ihr nicht, dass ein Ökoflüchtling, der von irgendwoher kommt und schon alles organisiert zu haben scheint, sie ausgerechnet bis vor die Haustür fährt.
»Was genau wollen wir hier, Rudy?«
»Markus Schumacher erwartet uns«, entgegnet der Holländer und schließt den VW ab.
»Markus erwartet uns? Um diese Uhrzeit? Das ist mal was Neues!« Vor Kälte bleibt Laurie fast die Luft weg. »Wie haben Sie das denn fertiggebracht?«
»Ganz einfach: Ich habe sein Auto. Er wird wohl kaum zu Fuß nach Hause gehen.«
Dabei wäre das nicht einmal unmöglich. Schumacher wohnt in Kehl, gleich auf der anderen Rheinseite jenseits der Grenze. Doch Laurie weiß, dass er sich nie im Leben mitten in der Nacht einer solchen Gefahr aussetzen würde - er ist und bleibt nun einmal ein schreckhafter Stubenhocker.
Plötzlich fällt Laurie etwas auf. »Haben Sie etwa ... haben Sie wirklich geschlagene zwei Stunden am Bahnhof auf mich gewartet?«
»Ging ja nicht anders! Hier herrscht Ausgangssperre.«
»Und Markus hat sein Auto nicht zurückgefordert?«
»Ich habe ihn nicht nach seiner Meinung gefragt.«
Laurie verzieht das Gesicht. Markus wird ganz schön wütend sein, vermutet sie. Eine Auseinandersetzung mit dem Chef von SOS ist so ungefähr das Letzte, worauf sie sich vor der langen Fahrt einlassen will. Sie träumt von einem Abendessen, einer Dusche und einem Bett und hofft, dass Rudy sich auch um diese Dinge gekümmert hat.
Laurie hat sich nicht geirrt: Als sie das Büro betreten, geht Markus wie eine Rakete an die Decke. Sein graues Haar ist zerrauft, sein sonst wachsweißes Gesicht ist feuerrot, sämtliche Aschenbecher quellen über vor Kippen, und das Büro ist völlig verraucht. Fast glaubt man, einen Trampelpfad auf dem Linoleum zu erahnen, so hektisch rennt Schumacher hin und her. Er brüllt Rudy in höchsten Tönen auf Deutsch an und vollführt dabei große Gesten mit seinen langen Armen. Rudy erträgt die Standpauke stoisch schweigend mit verschränkten Armen. Anschließend bekommt Laurie auf Französisch ihr Fett weg.
»Und jetzt zu dir, Laurie. Dein Bruder hat uns ja ganz schön in die Scheiße geritten!«
»Wie bitte?«, begehrt sie auf. »Was hat denn Yann damit zu tun?«
»Erinnerst du dich an den Prozess gegen GeoWatch? Ja, genau. Den haben wir verloren. Jetzt schulden wir GeoWatch hunderttausend Dollar, plus zwanzigtausend Dollar Strafe.«
»Was? Aber das ist doch eine schreiende Ungerechtigkeit! Man hat euch übers Ohr gehauen! Du gehst doch wohl in Berufung, oder?«
»Klar. Aber natürlich haben wir eine ganze Menge Ärger am Hals, den ich absolut nicht brauchen kann. Scheiße! Wenn ich deinen Bruder erwische ...«
»Den musst du erst mal finden«, grinst Laurie. »Weißt du etwa, wo er sich rumtreibt? Hast du etwas von ihm gehört? Siehst du, ich auch nicht!«
»Eigentlich müsste er bezahlen!«
»Ja klar. Mit dem miesen Gehalt, das du ihm als Webmaster gezahlt hast, kann er das natürlich auch. Und außerdem hast du ihn gefeuert. So viel zu der hochgelobten Solidarität, die wir uns auf die Fahnen geschrieben haben.«
»Laurie, du ... du ...«, stammelt Markus. Sein Gesicht ist krebsrot. Er sieht aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. Außer sich vor Wut ballt er die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortreten, und beißt die Zähne zusammen. »Du bist gefeuert. Und Rudy ebenfalls.« Er reißt die Bürotür auf. »Raus mit euch!«
»Immer mit der Ruhe, Markus«, versucht Laurie, den
Weitere Kostenlose Bücher