Ödland - Thriller
einer Krankheit, die auch ich nicht heilen kann. Sie heißt Hungersnot und Elend. Die Seele dieses Kindes ist bereit, die Erde zu verlassen, auf der sie nichts als Unglück erlebt hat. Ich habe dem Kleinen lediglich etwas gegen seine Schmerzen verabreicht. Spätestens morgen wird er sterben ... ganz friedlich, zum ersten Mal in seinem kurzen Leben.«
Abou nickt mit zusammengepressten Lippen. Er weiß nicht mehr, was er noch sagen soll, um das brütende Schweigen in der Hütte zu unterbrechen - ein Schweigen, auf dem das ganze Leid eines langsam sterbenden Volkes lastet. Die Geräusche aus dem Hof dringen nicht bis hierhin vor. Nur das leise Seufzen der rauchenden Fetischöffnung ist zu hören. Hadé sitzt auf ihrem niedrigen Stuhl und scheint wie gewöhnlich zu dösen. Abou weiß jedoch, das ihr Geist jetzt durch Regionen wandert, der gewöhnlichen Sterblichen für immer verschlossen bleibt. Plötzlich öffnet sie die kleinen, schwarzen Augen und spricht ihn an.
»Erzähle mir von dem Targi, Sohn.«
»Von welchem Targi, Großmutter?«
»Von der Vision, die du im Sandsturm gehabt hast, als du mit Salah auf Wache warst. Deswegen bist du doch hier, oder irre ich mich?«
Abou schüttelt langsam den Kopf. Natürlich ist er deswegen gekommen. Die Erscheinung ist lange durch seine Träume gegeistert und verfolgt ihn noch immer, auch wenn er inzwischen versucht, sie aus seinem Alltag zu verbannen. Er erzählt seiner Großmutter von dem Vorfall; dabei bemüht er sich, alle Einzelheiten so detailliert wie möglich zu schildern. Hadé hört zu und nickt manchmal, als ob die ganze Angelegenheit völlig normal wäre.
»So ist es gewesen, Großmutter«, schließt Abou. »Das ist alles, woran ich mich erinnere. Kannst du mir sagen, was es zu bedeuten hat? War der Targi vielleicht ein zindamba? Oder der Geist eines Toten?«
»Nein, mein Sohn, dieser Geist ist sehr lebendig. Und er ist auch kein Targi. Entweder hat er sich dieses Aussehen gegeben, oder du hast ihn als solchen gesehen. Wie war sein Gesicht?«
»Ich habe es nicht gesehen. Sein Cheche verbarg es, und außerdem hatte ich ständig Sand in den Augen.«
»Aber sicher hast du es gesehen. Du kannst dich bloß nicht mehr erinnern. Komm zu mir.«
»Bitte nicht, Großmutter!«, fleht Abou. »Ich möchte diesen Rauch nicht einatmen müssen!«
»Davon ist ja auch gar keine Rede. Steh auf, nimm die Kerze da drüben auf dem Regal und bring sie mir. Und bitte auch die Streichhölzer.«
Beruhigt tut Abou wie geheißen. Hadé zündet die Kerze an und wiegt sie sanft in der Hand. Das Flämmchen windet sich in einem geschmeidigen Tanz.
»Setz dich vor mich hin und beobachte die Flamme ganz genau. Denk dabei an nichts anderes als an den Targi, den du gesehen hast. Und konzentriere dich dabei auf sein Gesicht.«
Abou gehorcht. Er beobachtet die tanzende Flamme. Seine Augen weiten sich. Sein Körper beginnt, sich im Rhythmus der tanzenden Flamme zu wiegen. Selbst sein Atem passt sich dem Takt an.
»Da ... siehst du«, murmelt Hadé mit sanfter Stimme. »Ist er jetzt da?«
»Nein ... Alles ist dunkel ... Ein indigofarbener Cheche ...«
»Sieh genauer hin, mein Sohn ... Schau genau in die Flamme ... Du musst mitten hineinblicken...«
Der wiegende Rhythmus der Kerze verstärkt sich. Abou folgt der Bewegung. Seine Augenlider blinzeln nicht mehr, seine starren Augen beginnen zu tränen, und sein Atem wird tiefer.
»Sieh hin«, murmelt Hadé leise. »Betrachte sein Gesicht. Schau ihn dir an.«
Plötzlich stößt Abou einen Schrei aus.
»Ich sehe ihn! Ich sehe ihn!«
»Und?«
»Er ist ... sein Gesicht ist verschwommen ... Er sieht aus, als ob ... Seine Augen ...«
»Ja, seine Augen. Beobachte seine Augen.«
»Seine Augen sind grau. Großmutter - es ist ... es ist ein Weißer!«
»Und weiter?«
Abou verzieht den Mund. Seine Augen schwimmen vor Tränen und treten aus den Höhlen. Mit einem Mal wirft er sich zu Boden und schlägt die Hände vor das Gesicht. Als er wieder aufsteht, sind Tränenspuren auf seinen staubigen Wangen.
»Sag es, mein Junge. Los, sprich es aus.«
»Er ist es, Großmutter! Der missgestaltete Zwerg! Das Gesicht des Bösen! Das Gesicht des Hasses!«
Auf Hadés fleischigen Lippen zeichnet sich ein winziges Lächeln ab.
»Siehst du, mein Sohn. Du hast ihn erkannt. Er war es wirklich.«
»Aber wer ist er?« Abou zittert am ganzen Körper.
»Du hast das Gesicht deines Feindes gesehen. Unseres Feindes.«
»Anthony Fuller?«
»O nein, er ist nicht
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