Öffne deine Seele (German Edition)
nichts, Hannah Friedrichs und der junge Lehmann ausgenommen, die er auf Stillschweigen verpflichtet hatte.
Ebenso sämtliche anderen Beteiligten, die im Dahliengarten vor Ort gewesen waren.
Unmittelbar nach dem Besuch in Blankenese, um halb drei Uhr früh, hatte der Hauptkommissar die Polizeipräsidentin aus dem Bett geholt, um die Nachrichtensperre absegnen zu lassen.
Als er ihr den Namen des Opfers mitgeteilt hatte, hatte sie auf der Stelle ihr Einverständnis gegeben.
Doch, dachte er, wenn es ihr passte, konnte Isolde Lorentz überraschend flexibel sein.
Ihr musste auf der Stelle klar gewesen sein, dass jede Minute, in der die Geschichte von Falk Sieverstedts Tod noch nicht durch die Presse ging, kostbar war. Die Geschichte von den Umständen dieses Todes.
Soeben schoben sich die beiden letzten Beamten in den Raum: Klaus Matthiesen, der sich noch die Reste eines Franzbrötchens in den Mund stopfte, und Marco Winterfeldt, der langhaarige Computerfachmann der Abteilung, mit dem unvermeidlichen Laptop unter dem Arm.
Würde er nicht ab und an die Position wechseln, könnte man glauben, das Ding wäre festgewachsen, dachte Albrecht, während er beobachtete, wie der junge Mann den Apparat auf dem Tisch abstellte und übergangslos aufklappte, um hinter dem Bildschirm zu verschwinden.
Albrecht warf einen letzten Blick auf seine Mannschaft und bemühte sich, nicht zu lange bei den beiden leeren Stühlen zu verharren, die seine Mitarbeiter pietätvoll an den Rand gerückt hatten.
Acht Beamte, alles, was er zur Verfügung hatte. Zwei davon nicht einmal offiziell Angehörige der Abteilung. Aus seinem erzwungenen Genesungsurlaub heraus hatte er schon versucht, Isolde Lorentz zu bewegen, die während der dramatischen Vorgänge im vergangenen Herbst gelichteten Reihen wieder aufzufüllen. Vergeblich.
Zu wenige. Sie waren zu wenige, und auch die Kollegen würden das auf der Stelle erkennen, sobald er den Namen des Opfers an das Whiteboard schrieb.
Zu wenige, um einen Fall von der Größenordnung anzugehen, die der gewaltsame Tod eines Sieverstedt erwarten ließ.
Auf der Stelle würden sie es erkennen.
Und wussten doch nicht die Hälfte von dem, was Jörg Albrecht wusste.
***
«Hannah?» Geflüstert. «Salmiaks, Deern?»
Mit unterdrücktem Rascheln wurde mir eine offene Tüte entgegengestreckt.
Ich nickte zerstreut und griff zu, nahm aber nur eine einzige der winzigen Pastillen.
Es gab sehr unterschiedliche phantasievolle Geschichten, woher Hinnerk Hansen diese Dinger bezog, die einem in Sekundenschnelle ein Loch in den Gaumen fraßen. Irgendwo in meinem Innern war ich fest davon überzeugt, dass sein wochenlanger Krankenhausaufenthalt im letzten Jahr auf die eine oder andere Weise mit seinen Salmiaks in Verbindung stehen musste.
Ich schob mir das aromatische Plättchen zwischen die Lippen – und auf der Stelle zog sich in meiner Mundhöhle alles zusammen, als hätte ich auf eine Zitrone gebissen.
Genau das, was ich brauchte.
Auf einen Schlag war ich wach, wirklich und wahrhaftig wach, und beobachtete, wie Albrecht sich vor dem Whiteboard an seinem Folienschreiber zu schaffen machte.
Ich hatte kaum geschlafen in dieser Nacht.
Das kam zwar häufiger vor, wenn man für die Nachtschicht auf der Dienststelle eingeteilt war – trotzdem war es diesmal anders gewesen.
Unsere Nachtschichten können ganz unterschiedlich ablaufen: mal nervenaufreibend öde, mal hat man kaum die Zeit, für einen Moment aufs Klo zu verschwinden.
Heute Nacht, nachdem ich Falks Rechner in der Asservatenkammer verstaut und meinen Bericht über die Geschehnisse im Dahliengarten und den Besuch in Blankenese getippt hatte, war eigentlich nichts mehr zu tun gewesen. Nils Lehmann hatte schon vor unserem Einsatz im Volkspark ein Schläfchen machen können, sodass ich die Gelegenheit bekommen hatte, mich bis zum Beginn der Tagesschicht in der reviereigenen Teeküche aufs Ohr zu legen.
Das war ein Fehler gewesen.
Ja, ich hatte geschlafen, immer mal wieder für fünf oder zehn Minuten.
Ich war müde gewesen, hundemüde, sodass meine Lider wie von selbst zugefallen waren, wieder und wieder, und jedes Mal hatte sich dasselbe Bild vor meine Augen geschoben: ein verschwommener ovaler Umriss, kaum als Gesicht zu erkennen, der auf einen Schlag in grelles Licht getaucht wird, wenn Martin Euler auf den Knopf drückt.
Falk Sieverstedts blicklose Augen sind aufgerissen, das Weiß rund um die Iris durchzogen von einem blutigen Geflecht aus Adern,
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