Öffne deine Seele (German Edition)
Hand auf dem polierten Geländer.
Ich kannte ihn und wusste, auf welche Zeichen ich zu achten hatte. Wie er sich bewegte, wenn er sich einem Ort näherte, der für eine Ermittlung wichtig werden konnte. Wie er versuchte, Witterung aufzunehmen, ein Gefühl für diesen unbekannten Ort zu entwickeln.
Das hier war anders.
Er war nicht zum ersten Mal hier.
Ich hatte es im selben Moment begriffen, in dem er mir an der Gegensprechanlage das Wort abgeschnitten hatte.
Kripo oder nicht: Bis zu diesem Moment in der Zufahrt hatte ich Zweifel gehabt, ob man uns mitten in der Nacht überhaupt reinlassen würde. Mit Sicherheit wären wir gezwungen gewesen, durchblicken zu lassen, dass wir dem Konsul und seiner Frau eine wichtige persönliche Mitteilung machen mussten.
Diese Formulierung war in der Regel deutlich genug, dass sich die Türen öffneten.
Aber Albrecht hatte einfach nur seinen Namen sagen müssen.
Auf dem Revier war es ein offenes Geheimnis, dass er und seine Joanna in besseren Kreisen unterwegs gewesen waren. Aber das konnten doch unmöglich diese Kreise gewesen sein, die Sieverstedt-Kreise!
Und doch kannte er die Familie.
Dass er mich auf der Fahrt hierher mehr oder weniger ausgehorcht hatte, was ich selbst über die Sippe wusste, war noch die geringste Überraschung. An solche Manöver musste man sich gewöhnen, wenn man mit Jörg Albrecht arbeitete. Wenn er schon keinen Blick von außen auf das Geschehen werfen konnte, musste ich eben herhalten.
Damit hatte ich kein Problem.
Aber ich hätte meine Seele verwettet, dass er Falk tatsächlich nicht erkannt hatte, seine im Tode erstarrten Züge an der Oberfläche des Bassins.
Unerklärlich. Hier passte eines nicht zum andern.
Die Treppe mündete in eine Galerie, die das Foyer überblickte. Am Ende öffnete sich eine Tür aus dunklem Holz.
Der Umriss einer sehr großen, sehr schlanken Frau in einem knöchellangen, gerade geschnittenen Kleid erschien.
Ihre Hand lag auf dem Türrahmen, löste sich, als sie uns ein, zwei Schritte entgegenkam.
Ich kniff die Augen zusammen. Für eine Sekunde hatte ich mir eingebildet, sie wäre barfuß. Der Fußboden bestand aus demselben dunklen Holz, das das gesamte Innere des Hauses beherrschte.
Doch sie trug mokassinartige helle Schuhe, und als Albrecht auf sie zuging, wurde mir klar, dass mein kompletter erster Eindruck eine Täuschung gewesen sein musste: Sie war nicht größer als er oder ich.
«Elisabeth», sagte er leise und blieb stehen.
Ihre Augen zogen sich zusammen, gingen dann an ihm vorbei. Für eine halbe Sekunde begegneten sich unsere Blicke.
Natürlich kannte ich Elisabeth Sieverstedt. Aus der Presse, von Fotos: Wohltätigkeitsveranstaltungen, Filmpremieren, das Pferderennen, die Regatta des Yachtclubs. Seltsamerweise hatte ich gerade kein Bild vor Augen, auf dem sie ohne Hut zu sehen war. Hier im Haus trug sie die dunkelblonden, von ersten grauen Strähnen durchzogenen Haare zu einem Knoten hochgesteckt. Die Frisur ließ sie noch schmaler aussehen, als sie ohnehin schon war.
«Ihr seid wegen Falk hier.» Es war kaum mehr als ein Flüstern.
Der Hauptkommissar schien ganz leicht zusammenzuzucken.
«Leider ja», sagte er mit leiser Stimme.
Konsulin Sieverstedt bewegte sich nicht, zwei, drei Sekunden lang. Dann ging sie mit unsicheren Schritten in Richtung Brüstung.
Automatisch spannte ich mich an. Der Boden des Foyers lag zwei Stockwerke tiefer.
Doch sie tastete nach dem Geländer und ließ sich gegen das Holz sinken.
«Elisabeth …» Albrecht ging auf sie zu, blieb aber stehen, bevor er sie erreichte. «Können wir in die Bibliothek gehen?»
Sie sah an ihm vorbei, schüttelte kurz den Kopf.
Albrecht blickte über die Schulter zu mir.
«Meine Mitarbeiterin», sagte er plötzlich. «Hannah Friedrichs.»
Elisabeth Sieverstedt nickte nur.
Schweigen.
Keiner der beiden machte Anstalten, ein Wort zu sagen.
Ich hatte Jörg Albrecht bei Hunderten von Zeugenbefragungen beobachten können und war Dutzende Male dabei gewesen, wenn er eine Todesnachricht überbrachte.
Dass er nicht wusste, was er sagen sollte, hatte ich noch nie erlebt.
Ich fuhr mir über die Lippen. «Frau Sieverstedt, könnten wir uns vielleicht setzen?», versuchte ich es selbst und nickte zu der offenen Tür. «In Ihrer Bibliothek vielleicht?»
Ein Ruck ging durch den schmalen Körper.
«Natürlich.» Langsam ging sie auf die Tür zu und berührte wieder leicht den Türrahmen.
Erden , dachte ich. Menschen, denen wir eine
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