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Öffne deine Seele (German Edition)

Öffne deine Seele (German Edition)

Titel: Öffne deine Seele (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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ehrlich war, über seine eigenen Töchter?
    Eines Tages werde ich aufwachen, und sie werden wildfremde Menschen sein.
    Er schüttelte sich.
    Im August, wenige Tage nach seinem eigenen Geburtstag, würde Clara vierzehn werden.
    Volle fünfzehn Jahre musste es demnach her sein, dass er den jungen Mann, dessen Körper jetzt zwanzig Meter entfernt in einem Kühlfach wartete, zum letzten Mal gesehen hatte. Falk Sieverstedt – und seine Eltern.
    Albrecht drehte sich um.
    Die dunkle Limousine näherte sich aus Richtung Lokstedter Steindamm. Hier, vor dem Institut, hätte man sie auf den ersten Blick für einen Leichenwagen halten können, wären da nicht die diskreten Wimpel an der Kühlerhaube gewesen. Die Vormittagssonne fing sich in den Farben Deutschlands und eines Staates in Südostasien, dessen Name in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in den Nachrichten auftauchte.
    Der Chauffeur hielt unmittelbar vor dem Institut, öffnete die beiden Türen im Fond des Fahrzeugs und war den Sieverstedts beim Aussteigen behilflich.
    Puck, die Stubenfliege.
    Jörg Albrecht erinnerte sich gut an den Nachmittag zu Hause in Ohlstedt. Clara, sechs oder sieben Jahre alt, hatte vor dem Fernseher gesessen und eine Zeichentrickserie geschaut, die Abenteuer der Biene Maja. Albrecht war wie angewurzelt stehen geblieben, als das Wesen auf dem Bildschirm erschienen war wie ein Besucher aus einem früheren Leben: Puck, wie aus dem Dialog zu entnehmen war, die Stubenfliege. Von den Zeichnern der Serie mit sonnenbrillenartigen Facettenaugen dargestellt.
    Puck hatte ausgesehen wie Friedrich Sieverstedt. Konsul Sieverstedt sah aus wie Puck, ein in die Jahre gekommener Puck, mittlerweile mit Falten, die sich scharf bis zu den Mundwinkeln gegraben hatten, und einem Gewirr dunkelroter geplatzter Äderchen auf den Wangen. Die Ähnlichkeit mit der Zeichentrickfigur fiel heute etwas weniger ins Auge, weil an diesem Morgen nicht allein der Konsul, sondern auch Elisabeth eine dunkel getönte Sonnenbrille trug. Der Unterschied war, dass der Hauptkommissar Konsul Friedrich Sieverstedt fast nie ohne diese Brille erlebt hatte.
    «Elisabeth», murmelte Albrecht, ganz wie am Abend zuvor, und griff nach der Hand der Konsulin. Eiskalt. Der Druck war kaum zu spüren.
    «Friedrich.» Dieser Druck war fester – und keinen Lidschlag länger als notwendig.
    Eine Sache, in der wir uns einig sind, dachte der Hauptkommissar.
    «Jörg», sagte der Konsul.
    «Mein Beileid», sagte Albrecht.
    Friedrich Sieverstedt nickte, ging aber nicht auf die Bemerkung ein. «Bringen wir es hinter uns.»
    «Bitte.» Albrecht deutete den gepflasterten Gehweg hinab, der zum Siebziger-Jahre-Bau des Instituts führte. Zum zigsten Mal fragte er sich, wie ein Gebäude, das fast nur aus Fenstern bestand, dermaßen abweisend wirken konnte.
    Vielleicht nur passend, dachte er, wenn es mehr tote als lebendige Besucher gesehen hat.
    Zwei Betonstufen führten hinauf. Die Glastür öffnete sich von selbst, als Albrecht sich näherte. Oder nicht vollständig von selbst.
    «Hauptkommissar.» Martin Euler erschien in der Tür, mit Ringen unter den Augen.
    «Die Eheleute Sieverstedt», stellte Albrecht vor, ohne umgekehrt den Namen des Gerichtsmediziners zu nennen.
    Die wenigsten Angehörigen legten unter den gegebenen Umständen Wert auf eine nähere Bekanntschaft mit Eulers Berufszweig.
    Ein gemurmeltes «Mein Beileid», doch die Sieverstedts traten schon durch die Tür.
    Albrecht hielt sich im Hintergrund. Die Identifizierung war ein bürokratischer Akt, seine Anwesenheit war streng genommen nicht notwendig. Doch er ließ sich diesen Termin ungern entgehen bei einem Fall, für den er die Verantwortung trug.
    Den Termin, bei dem auch Angehörige, die bei der Befragung noch so eisern schwiegen, fast immer etwas von sich preisgaben.
    Friedrich Sieverstedt hatte seiner Frau den Vortritt gelassen, schob sich aber nun an ihr vorbei. Ein kurzer Blick durch das Foyer nahm alles Wesentliche auf. Elisabeth war langsamer, blieb zwei Schritte hinter der Tür stehen. Witternd. Wie ein Reh, aufgeschreckt von Schüssen in der Winterluft, unsicher, aus welcher Richtung Gefahr droht. Ein häufiges Bild bei den Angehörigen: Hier, in der doppelt und dreifach gesicherten klinischen Umgebung, die zu Arbeitszeiten von einem größeren Aufgebot an Polizeikräften bevölkert wurde als eine mittelgroße Dienststelle, erwachte das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit.
    Martin Euler

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