Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
gekommen war. Im eng gefassten Rahmen ihrer Ermittlung standen ihr vier volle Tage vor Ort zur Verfügung. Vier Tage waren viel, um in alten Dokumenten zu suchen. Sie hatten ihr mehr als genug Zeit bewilligt.
Lucie dachte an die letzten Worte Sharkos am Bahnsteig des RER in Bourg-la-Reine: » Pass auf dich auf, Kleine.« Die Worte hatten tief in seiner Kehle nachgeklungen wie kleine Steinchen, die aneinanderstoßen. Dann hatten sie einander die Hand gegeben– er Daumen oben– und ein Lächeln ausgetauscht– 2:0! Daraufhin war Sharko mit hochgezogenen Schultern und ohne sich umzudrehen gegangen, wie bei ihrer ersten Begegnung. Lucie hatte ihm lange nachgeschaut und seine mächtige Gestalt auf der Treppe in der Anonymität verschwinden sehen.
Nach einem Umweg über ihr Badezimmer hatte sie ihre Reisetasche nur mit dem Nötigsten fertig gepackt. Sie hatte sie im Kofferraum ihres Wagens verstaut, den Müll hinausgetragen und sich Richtung Kreiskrankenhaus aufgemacht. Sie war aufgeregt wie selten. Kanada… eine internationale Angelegenheit… für sie, die » kleine Polizistin«, die noch vor wenigen Jahren im Kommissariat von Dünkirchen Papierkram erledigt hatte. Irgendwie war sie stolz auf ihren Aufstieg.
Lucie betrat das Krankenhauszimmer mit zwei Bechern schwarzem Kaffee aus dem Automaten. Ihre Mutter war noch immer zur Stelle. Sie saß mit Juliette vor der Spielkonsole. Ausmalhefte lagen auf dem Bett. Die Kleine lächelte ihr mit halbem Blick zu. Sie strahlte, ihre Haut hatte endlich wieder den rosigen Teint von Kindern ihres Alters angenommen. Der Arzt hatte die Entlassung offiziell für den nächsten Vormittag angekündigt. Lucie drücke ihre Tochter an sich.
» Morgen Vormittag? Das ist ja genial, mein Liebling!«
Nach vielen Küssen ging Juliette fröhlich wieder an die Konsole, um weiterzuspielen. Lucie und Marie standen auf der Türschwelle, ihre Becher in der Hand. Lucie atmete einmal tief durch und gab sich dann einen Ruck.
» Maman, du wirst Juliette noch mindestens vier Tage beaufsichtigen müssen… Also genau gesagt vier Tage und vier Nächte. Es tut mir leid, aber es sind schwierige Ermittlungen und…«
» Wohin fährst du?«
» Nach Montreal…«
Marie Henebelle hatte die Gabe, einen so anzuschauen, dass man sich sofort schuldig fühlte.
» Jetzt also auch noch ins Ausland. Es ist zu allem Überfluss hoffentlich nicht auch noch gefährlich?«
» Nein, nein. Ich werde dort lediglich in alten Archiven wühlen. Nicht wirklich spannend, aber irgendjemand muss die Arbeit eben tun.«
» Und da fiel die Wahl natürlich auf dich.«
» So kann man das sagen.«
Marie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass diese, selbst wenn sie losziehen würde, um den Teufel höchstpersönlich zu treffen, so tun würde, als ginge sie mal eben Pilze sammeln. Sie deutete mit dem Kopf auf ein graues Plüschtier, ein Nilpferd.
» Dein Ex war hier.«
» Mein Ex… du meinst Ludovic?«
» Gibt es noch andere?«
Lucie schwieg. Traurig beobachtete Marie ihre Enkeltochter.
» Du hättest mal sehen sollen, wie gut sich die beiden verstanden haben. Ludovic war zwei Stunden hier. Er ist jetzt wieder zu Hause und meint, du könntest ihn anrufen, wenn du möchtest. Du solltest es tun.«
» Maman…«
Marie schaute ihrer Tochter in die Augen.
» Du brauchst einen Mann, Lucie. Jemanden, der dir Stabilität gibt, der es versteht, dich im richtigen Moment wieder in die Realität zu holen. Ludovic ist ein guter Junge.«
» Das Problem ist nur, dass ich ihn nicht liebe.«
» Du hast dir gar nicht die Zeit genommen, ihn lieben zu können! Deine Zwillinge sind öfter bei ihrer Großmutter als bei ihrer Mutter. Ich beaufsichtige und erziehe sie. Findest du das normal?«
Im Grunde hatte Marie vollkommen recht. Lucie dachte wieder an Sharkos Ansicht über den Beruf: ein gefräßiges Monster, das auf lange Sicht nur zerstörte oder getrennte Familien ausspie.
» Nach diesen Ermittlungen, Maman. Ich verspreche dir, dass ich in Ruhe darüber nachdenken werde.«
» Darüber nachdenken, ja, wie nach den vorigen Ermittlungen. Und den vorvorigen. Und den vorvorvorigen…«
Ihr Blick war vorwurfsvoll und enthielt auch eine Portion Mitleid.
» Ich kann dich heute nicht mehr erziehen. Du bist wie in Beton gegossen, meine Große, und man müsste mit einem Eispickel vorgehen, um in deinem verdammten Gehirn etwas zu verändern.«
» Wenigstens weiß ich, von wem ich das habe.«
Es gelang Lucie, ihrer Mutter ein
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