Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
den Schein einer Taschenlampe, dann wurde es wieder dunkel.
Mit zusammengebissenen Zähnen erhob er sich und tastete sich zum Wohnzimmer.
Auf der anderen Seite ein leichtes Knarren des Bodens. Sharko stützte sich auf den Rand des Sofas und duckte sich, die Waffe vor sich ausgestreckt. Er hätte auch einen frontalen Überraschungsangriff starten können, aber er wusste nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun haben würde. Mit Sicherheit war es mehr als einer.
Das Knarren hörte auf. Die Hand des Kommissars, die den Kolben der Waffe umklammerte, war feucht. Er dachte plötzlich an die Fotos von der Leiche des Filmrestaurators: der baumelnde ausgeweidete Körper, der mit Filmstreifen vollgestopft war. Ein wenig beneidenswertes Schicksal.
Der Türknauf drehte sich langsam. In den folgenden Sekunden rechnete Sharko damit, dass sie die Schlösser aufbrechen und endlich hereinkommen würden, bewaffnet mit Messern oder schallgedämpften Pistolen.
Die Zeit erschien ihm unendlich lang.
Plötzlich ein Rascheln unter der Tür.
Das Knarren setzte wieder ein und entfernte sich in regelmäßigem Rhythmus.
Sharko rannte zur Tür und riss sie auf. Mit gezogener Waffe schaltete er das Licht ein und hetzte die Stufen hinunter und durch die Eingangshalle auf die Straße. Auf dem Bürgersteig empfing ihn das fahle Licht der Laternen. Rechts und links kein Mensch. Nur das Säuseln einer leichten Brise und der langsame Atem der Nacht.
Hinter ihm fiel die Haustür zu, ohne dass das Schloss einrastete. Sharko entdeckte ein mit Klebeband befestigtes Stückchen Karton, das das Einrasten des Schnappers verhinderte. Sie hatten sicher die abendliche Heimkehr eines Bewohners genutzt, um ihr System zu installieren. So konnten sie zur gewünschten Zeit hereinkommen, ohne klingeln zu müssen. Einfach, aber durchdacht.
Der Kommissar lief zurück in seine Wohnung. Er knipste das Licht an, schloss hinter sich ab und schob den weißen Umschlag, den man unter der Tür hindurchgesteckt hatte, mit dem Fuß ins Wohnzimmer. Nachdem er ein Paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, nahm er ihn an sich. Vorsicht war besser.
Der Umschlag war dünn und leicht. Sharko musterte ihn von allen Seiten und öffnete ihn dann vorsichtig mit einem Messer.
Er hatte eine sehr böse Vorahnung.
Im Inneren befand sich nur ein Foto.
Es zeigte Lucie Henebelle und ihn selbst, als sie die Wohnung verließen. Am Tag, nachdem sie die Nacht bei ihm verbracht hatte.
Der Kopf der jungen Frau war mit rotem Filzstift eingekreist.
Sharko lief zum Telefon und wählte überstürzt Lucies Nummer.
Die Leitung war noch immer tot, so als würde der Anschluss nicht existieren.
Das waren sie gewesen. Da war sich der Kommissar ganz sicher. Auf die eine oder andere Art hatten sie die SIM -Karte ihres Handys manipuliert.
In der nächsten Minute wählte er mit zitternden Fingern die Nummer des Hotels in Montreal. Man teilte ihm mit, Madame Henebelle befände sich nicht in ihrem Zimmer, und der Schlüssel hinge an der Rezeption. Sharko sagte der Empfangsdame, er habe eine wichtige Nachricht für Lucie Henebelle und erwarte dringend ihren Rückruf.
Er hängte ein und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Und er hatte geglaubt, Henebelle sei auf der anderen Seite des Ozeans in Sicherheit. Aber er hatte sie vollkommen isoliert. Und in die Höhle des Löwen gestoßen.
Eine halbe Stunde später klopfte er, da er sich keinen Rat mehr wusste, an die Tür seines Chefs Martin Leclerc, der im 12. Arrondissement in der Nähe der Bastille wohnte.
Es war kurz vor zwei Uhr morgens.
Kapitel 46
Es war nach achtzehn Uhr. Lucie hatte in dem kleinen Raum, der nach Papier und Vergangenheit roch, gegenüber der Archivarin Platz genommen. Patricia Richaud spielte nervös mit der Heiligenmedaille der Jungfrau Maria, während Lucie die Liste der Nonnen durchging, die noch im Hôpital de la Charité von Montreal lebten. In diesem abgelegenen Kämmerchen herrschte eine eigenartig angespannte Atmosphäre.
Lucie deutete auf das Blatt.
» Sie ist noch da. Schwester Marie-du-Calvaire… fünfundachtzig Jahre. Aber sie lebt.«
Mit einem erleichterten Seufzer lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Die alte Frau in Gottes Diensten hatte Alice Tonquin gekannt. Und sie kannte sicher auch einen Teil der Wahrheit.
Zufrieden konzentrierte sich Lucie auf Patricia Richaud, die zu erzählen begann:
» In jenen Jahren, die Sie interessieren, verzieh man den Frauen nicht, wenn sie ein uneheliches Kind zur
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