Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Welt brachten. Mütter, die sich nicht an die Normen hielten, wurden als Abweichlerinnen und Sünderinnen von den eigenen Eltern verstoßen. Also versuchten die schwangeren jungen Frauen um jeden Preis, ihren Fehltritt zu verbergen, verließen die Stadt für mehrere Monate und entbanden heimlich hinter Klostermauern.«
Unbewusst kreiste Lucie den Namen Alice Tonquin ein, den sie in ihrem Buch notiert hatte. Das Gesicht des Kindes ließ sie nicht mehr los, sie wusste, dass dieser alte Schwarz-Weiß-Film, den sie am ersten Tag im Vorführraum ihres Exfreundes Ludovic gesehen hatte, sie noch lange verfolgen würde.
» Und sie ließen ihre Kinder im Stich«, murmelte sie.
Patricia Richaud nickte.
» Ja, die Babys wurden dann von den Nonnen aufgenommen. Ziel war es, dass die Waisen später in einer anständigen Familie erzogen würden und gute Chancen im Leben bekämen. Aber durch die Krise der Dreißigerjahre sank die Adoptionsquote drastisch. Die meisten Kinder wuchsen in den religiösen Einrichtungen auf und blieben auch dort. Also mussten neue Kinderkrippen, Klöster, Waisen- und Krankenhäuser gebaut werden. Die Kirche nahm immer mehr Einfluss auf die Regierung, der sich nach und nach auf Institutionen von Gesundheit, Erziehung, Sozialwesen ausdehnte. Die Kirche war allgegenwärtig.«
Lucie hatte fast nichts von Montreal gesehen, aber sie erinnerte sich an die unzähligen religiösen Bauwerke, die zwischen IBM -Buildings und Finanzhochhäusern standen. Eine Stadt, deren Geschichte stark vom Katholizismus geprägt war, das konnten weder Modernität noch Kapitalismus verdecken.
» Als 1944 Maurice Duplessis an die Macht kam, vollzog sich eine entscheidende politische Wende in Quebec. Eine Zeit, die man die ›Grande Noirceur‹, die schwarze Epoche, nennt. Die Regierung Duplessis zeichnete sich vor allem durch Antikommunismus, Gewerkschaftsfeindlichkeit und eine unfehlbare Wählermanipulation aus. Oft bekam seine Partei während des Wahlkampfs aktive Unterstützung von der römisch-katholischen Kirche, und deren Macht ist Ihnen ja sicher nicht unbekannt…«
Lucie schob das Foto von Alice zu der Archivarin.
» Was haben die Waisenkinder damit zu tun? Inwiefern betrifft das dieses kleine achtjährige Mädchen?«
» Dazu komme ich gleich. Zwischen 1940 und 1950 stammten die meisten Kinder, die in Waisenhäusern untergebracht wurden, aus getrennten Familien, die sich nicht um sie kümmern konnten. Aber sie zahlten den Heimen Unterhalt für die Erziehung ihrer Nachkommen, und zwar wesentlich mehr als die staatliche Unterstützung. Bis dahin funktionierte das System recht gut, die Kirche bekam Geld und konnte damit ihre wohltätigen Aufgaben erfüllen. Die vielen unehelichen Kinder hingegen stellten ein ernsthaftes Problem dar, denn zum einen belegten sie die Plätze in den Waisenhäusern, vor allem aber zahlte niemand für sie, bis auf den Staat, der ein lächerliches Tagegeld von sechzig Cent pro Kopf gewährte. Doch diese illegitimen Kinder, wie man sie damals nannte, mussten untergebracht, ernährt und unterrichtet werden, so wie es jedem Menschen zusteht. Mit den knappen finanziellen Mitteln versuchten die Nonnen dennoch, die Waisen großzuziehen und auszubilden, wenn auch in Strenge und Armut. Was auch immer später geschehen ist, für diesen Einsatz kann sie niemand tadeln. Es war nicht ihre Schuld…«
Sie machte eine Pause, ihr Blick war ausdruckslos, und schließlich fuhr sie fort:
» Zur selben Zeit, das heißt 1950, richtete die Kirche das Hôpital Mont-Providence ein, eine Spezialschule für geistig leicht zurückgebliebene Waisen. Ziel war es, diesen Kindern eine Erziehung angedeihen zu lassen und später für ihre soziale Integration zu sorgen. 1953 stand die Einrichtung dann vor dem Bankrott. Die religiösen Orden hatten inzwischen mehr als sechs Millionen Dollar Schulden beim Staat, der jetzt eine Rückzahlung verlangte. Die Nonnen befanden sich in einer Sackgasse und riefen die Provinzregierung um Hilfe an. Und in diesem Moment schlug alles um, wurde zur Hölle, und Quebec erlebte die düsterste Epoche seiner Geschichte.«
Lucie lauschte aufmerksam. Denn wieder handelte es sich um die Zeit, die sie interessierte: Anfang der Fünfzigerjahre. Trotz der Hitze fröstelte sie. Patricia Richaud fuhr mit kalter, fast dozierender Stimme fort:
» Maurice Duplessis autorisierte in der Folge einen Schachzug und ermöglichte es, dieses Krankenhaus für leicht Zurückgebliebene in eine richtige Anstalt
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