Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
teilweise rekonstruierten Skelette lagen. In diesem Raum, der mehr einer Küche als einem Labor glich, roch es nach trockener Erde und Reinigungsmitteln. Die sterblichen Überreste waren im Wasserbad behandelt worden, um eventuelle Weichteile abzulösen.
» Die fünfte und am besten erhaltene Leiche erwartet Sie im Obduktionssaal, ehe sie in den Kühlraum kommt.«
Er griff zu einem Stift und schob ihn in die Spina nasalis anterior, den vorderen Nasendorn des linken und kleinsten Skeletts.
» Die Spitze des Stifts berührt das Kinn. Das Jochbein steht vor, das Gesicht ist flach und rund. Es handelt sich mit Sicherheit um einen Mongolen. Die vier anderen sind europiden Ursprungs.«
Eine erste gute Nachricht, denn eine Leiche asiatischer Herkunft würde die Suche in den verschiedenen Datenbanken erleichtern. Plaisant ließ den Stift in der Nase des Toten stecken, griff nach einem gespaltenen Schädel, stellte ihn mit dem Kiefer auf die Tischplatte und stupste ihn an, sodass er zu schaukeln begann.
» Bei Männern gibt es immer diese Pendelbewegung, bei Frauen nicht. Das Gehirn ist zu klein…« Er lächelte. » Das sollte natürlich ein Witz sein…«
Sharko verzog keine Miene, ihm war nicht nach Lachen zumute. Wegen des Verkehrslärms und des Summens einer Fliege, die er nicht erwischt hatte, war seine Nacht unruhig gewesen. Nachdem sein Scherz nicht angekommen war, wurde der Arzt wieder ernst.
» Aber ich habe es anhand der Becken überprüft, das ist die sicherere Methode. Bei der Frau ist der Schambeinwinkel wesentlich stumpfer. In unserem Fall haben wir es also mit männlichen Skeletten zu tun.«
» Welches Alter?«
» Dazu wollte ich gerade kommen. Da keine Zähne mehr vorhanden waren, bin ich von der Schädelstruktur, der degenerativen Veränderung der Wirbelkörper und der Einkerbung des Brustbeins an der vierten Rippe ausgegangen. Es…«
Sharko hob plötzlich das Kinn in Richtung Kaffeemaschine.
» Bieten Sie mir eine Tasse an? Ich habe heute Morgen nicht gefrühstückt, und von diesem Geruch wird mir ganz schlecht.«
In seinen Ausführungen unterbrochen, schwieg Plaisant einige Sekunden überrascht, bevor er zu der Nische auf der anderen Seite ging. Während er an der Kaffeemaschine hantierte, fuhr er fort:
» In unserem Fall hatten wir Glück. Je jünger die Kandidaten sind, desto geringer die Fehlerquote. Älter als dreißig Jahre wird es schwierig. Zur Altersbestimmung orientieren wir uns vor allem an der Entwicklung der Symphysis pubica, der Schambeinfuge. Bei jungen Erwachsenen ist sie sehr rau und weist Erhöhungen und Vertiefungen auf. Und die…«
» Wie alt?«
Der Kaffee lief durch die Maschine, und Plaisant kehrte zu seinen Skeletten zurück.
» Die Männer waren zum Todeszeitpunkt zwischen zweiundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre alt. Informationen zur Größe und zu den anderen anthropometrischen Daten finden Sie im Bericht.«
Hauptkommissar Sharko lehnte sich nachdenklich an die Wand. Junge Menschen, alle männlichen Geschlechts. Das war vielleicht ein wichtiger Hinweis, ein Auswahlkriterium des Mörders. War er so alt wie sie? Hatte er Umgang mit ihnen? Wo? An der Universität, in einem Sportclub? Er deutete mit dem Zeigefinger auf den halben Schädel, der am Hinterhauptbein ein Loch, umgeben von feinen Rissen, aufwies.
» Erschossen?«
Der Anthropologe griff nach einer Stricknadel.
» Getötet oder verletzt, allerdings deutet bei diesen vier Toten alles auf die erste Möglichkeit hin. Der Fünfte war wahrscheinlich nur an der Schulter verletzt. Aber das erklärt Ihnen Doktor Busnel.«
Mit seiner Stricknadel tippte er auf die Wirbelsäule des Asiaten.
» Der hier ist in den Rücken getroffen worden. Der vierte Wirbel ist von hinten zersplittert. Diese beiden sind vermutlich von vorn getötet worden. Mehrere Rippen sind gebrochen, wahrscheinlich ist die Kugel an ihnen abgeprallt, ehe sie ein lebenswichtiges Organ verletzt hat. Mein Kollege von der Strahlenabteilung wird sie scannen und versuchen, eine 3D-Rekonstruktion zu erstellen, um Ein- und Austrittspunkt des Geschosses festzulegen. Aber das wird in diesem Zustand nicht einfach sein. Was den Letzten betrifft, so wurde er durch einen Kopfschuss getötet, die Kugel ist nicht einmal auf der Vorderseite ausgetreten.«
Er schenkte den Kaffee in zwei Tassen und reichte eine davon Sharko, der grübelnd vor den Skeletten stand. Es gab keine Parallelen in der Art des Tötens. Von hinten, von vorn, durch Kopfschuss… Kein
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