Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
sagen, dass sie eine » gute Kundin« war.
» Sie ist vielleicht dumm, aber… Es geht um etwas, wovon ich gehört habe, ohne eine offizielle Bestätigung zu haben. Kann das Auge irgendein Bild von dem speichern, was unmittelbar vor seinem Tod geschehen ist?«
» Wie bitte? Was meinen Sie?«
» Zum Beispiel ein gewalttätiges Bild, das letzte Bild, ehe das Leben verlischt. Eine Einheit von Lichtkörnern, die man womöglich rekonstruieren kann, ich weiß nicht, vielleicht durch eine Analyse der fotorezeptiven Zellen oder der Teile des Gehirns, die irgendwo Informationen gespeichert haben.«
Schweigen. Lucie kam sich etwas albern vor, er würde sicher laut lachen.
» Der Mythos vom Optogramm…«
» Wie bitte?«
» Sie sprechen vom Optogramm. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts besagte der Volksglaube, dass ein Mord durch seine Gewalttätigkeit und Plötzlichkeit auf der Netzhaut ein Abbild hinterlassen könnte wie bei einem sehr sensiblen Film…«
Sensibler Film, Auge, Filmmaterial… Begriffe, die seit Anfang der Ermittlungen immer wieder auftauchten.
» Die Mediziner haben sich damals intensiv mit der Sache beschäftigt. Sie glaubten, auf der Netzhaut eines Toten das Bild des Mörders erkennen zu können. Die damalige Ärzteschaft versuchte, den Augapfel, sobald er aus der Höhle und von der Linse befreit war, zu fotografieren, um so erkennbare Beweise für das Verbrechen zu finden. Einige haben diese Methode tatsächlich angewandt, um die Polizei zu unterstützen. Und man hat auch tatsächlich Menschen verhaftet. Vermutlich Unschuldige.«
» Und… ist diese Fixierung auf der Netzhaut plausibel?«
» Nein, natürlich nicht. Wie der Name sagt, handelt es sich um einen Mythos.«
Lucie stellte eine letzte Frage.
» Und 1955, hat man da noch daran geglaubt?«
» Nein, so rückständig waren sie 1955 wirklich nicht mehr.«
» Danke, Doktor.«
Sie verabschiedete sich und beendete das Gespräch.
Der Mythos vom Optogramm…
Mythos hin oder her. Der oder die Mörder hatten die Aufmerksamkeit auf das Bild lenken wollen, auf seine Macht und seinen Bezug zum Auge. Dieses Sinnesorgan schien für den Täter wichtig zu sein und Symbolkraft zu haben. Aus künstlerischer Sicht war es auch der Anfang des Films. Kein Auge, kein Bild, kein Film. Der Bezug war zwar nur schwach, aber er existierte. Lucie sah die Persönlichkeit des Mörders jetzt als eine Mischung von medizinischem– das Auge als Organ, das man ausschälte– und künstlerischem Interesse– das Auge als Medium und Bildträger. Nachdem es sich um zwei Mörder handelte, hatte vielleicht jeder seine Kompetenz. Ein Arzt und ein Cineast …
Noch immer in Gedanken vertieft, blieb Lucie vor einem Sandwichstand stehen. Ihr Handy vibrierte. Das war Kashmareck. Er kam direkt zur Sache:
» Wie weit sind Sie?«
» Ich war gerade in der Kriminaltechnik und habe einige neue Informationen. Ich komme gleich.«
» Das trifft sich gut. Ich weiß, es ist schon spät, aber wir fahren zur Universitätsklinik Saint-Luc in der Nähe von Brüssel.«
Lucie kaufte ein Sandwich und ging weiter.
» Schon wieder Belgien?«
» Ja. Wir haben die Telefonate überprüft, die das Opfer geführt hat. Darunter war auch eines mit einem Mann namens Georges Beckers, Spezialist für Gehirn- und Bildforschung. Sie hatten mir seine Visitenkarte gegeben. Er arbeitet im Bereich Neuromarketing. Ich wusste nicht einmal, dass es einen solchen Beruf gibt. Direkt nachdem er den Film gescannt hatte, hat Poignet ihm den Link zu dem Server geschickt, auf dem eine Kopie liegt, und ihn gebeten, ihn auszuwerten. Wir haben den digitalisierten Film, Lucie. Die entsprechende Dienststelle lädt ihn gerade herunter. Ich setze gleich einen Fachmann für Lippenlesen und auch Bildprofis darauf an. Die werden ihn vollständig analysieren.«
Lucie seufzte lautlos. Die Technik hatte die Mörder ausgehebelt. Sie hatten getötet, um ihr Geheimnis zu wahren, und dennoch war dieses nun auf allen Polizeicomputern abrufbar.
» Und hat dieser Beckers etwas gefunden?«
» Nach seiner Aussage war der alte Wlad Szpilman schon vor etwa zwei Jahren mit demselben Film in ihrem Forschungszentrum. Er kannte den damaligen Direktor sehr gut, allerdings ist dieser vor wenigen Monaten an einem Herzinfarkt gestorben.«
Lucie überlegte, ehe sie antwortete.
» Wlad Szpilman hatte offenbar dieselbe Intuition wie unser Restaurator. Seinem Sohn zufolge war er jemand, der sich einen Film zehnmal anschauen konnte. Er hatte
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