Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Verhalten, diese Vorgehensweise. Diese mangelnde Logik in ihrem Handeln. Es ist dasselbe irrationale Verhalten wie bei den Kindern des über fünfzig Jahre alten Films.«
Kapitel 31
Eugénie freute sich auf die Abreise, sie hüpfte und kreischte vor Glück vor dem Hotel. Sharko trug seine Reisetasche zum Taxi, das ihn vor dem Gebäude erwartete. Dieses Mal kein Botschafts-Mercedes. Wie vereinbart, hatte er Lebrun um Punkt vierzehn Uhr die Fotos im Kommissariat zurückgegeben. Der Botschaftsattaché war allein gekommen, und ihre kurze Unterhaltung war nicht optimal verlaufen, insbesondere als Lebrun das Hämatom neben Sharkos Nase entdeckt hatte. Sharko hatte etwas von einem Ausrutscher im Bad gemurmelt. Das blieb ohne Kommentar…
Als er auf dem Bürgersteig stand, blickte sich Sharko um, in der vergeblichen Hoffnung, Nahed noch einmal zu sehen, sich von ihr verabschieden und ihr Glück wünschen zu können. Sie hatte auf keinen seiner Anrufe reagiert. Wahrscheinlich waren das die Instruktionen der Botschaft. Bedrückt bestieg er sein Taxi und bat den Fahrer, ihn zum Flughafen zu bringen.
Eugénie nahm neben ihm Platz und löste sich während der Fahrt in Luft auf. Endlich konnte Sharko die Landschaft genießen, ohne das Geschrei im Kopf zu haben. Die einzige wirkliche Ruhepause seit seiner Ankunft in Ägypten.
Frühmorgens hatte Taha Abu Zeid, der nubische Arzt vom Salam-Zentrum, ihn angerufen und seine Vermutungen bestätigt: Auch die beiden anderen Opfer hatten an der kollektiven Hysterie in ihrer aggressivsten Form gelitten. Und soweit sich die verschiedenen Ärzte, die offenbar keine der Akten archiviert hatten, erinnern konnten, hatten die aggressiven Symptome bis zu dem grausamen Tod der Mädchen angedauert.
Das war die Gemeinsamkeit der Opfer.
Die kollektive Hysterie.
Es war möglicherweise dieselbe Verbindung, die zwischen den fünf anonymen Toten von Gravenchon bestand.
Das Taxi verließ das Stadtzentrum und fuhr nun über die Salah-Salem-Road. Der Atem Kairos verlor sich allmählich in den Auspuffgasen.
Den Kopf an die Scheibe gelehnt und in seine finsteren Gedanken versunken, bemerkte Sharko in der Ferne einen Zug. Außen klammerten sich vier Männer, so gut es ging, an den Faltenbalg, die Füße auf irgendwelchen Rohren oder auf Trittbrettern. Ungeachtet ihrer Religion oder ihres Glaubens drängten sie sich aneinander, um nicht abzustürzen. Dem Wind und der Sonne ausgesetzt, fuhren sie dem glühend heißen Staub Kairos entgegen. Die Männer riskierten ihr Leben, um nicht eine Fahrkarte für drei Pfund lösen zu müssen, aber sie alle lachten und schienen glücklich, weil ihr Elend sie mehr als alles andere daran erinnerte, wie wertvoll das Leben war.
Am Flughafen angelangt, sah Sharko dann die Menschen, die sich vor den Schaltern für ein Low-cost -Ticket nach Libyen drängten, mit einem großen Leinensack als einzigem Gepäck. Sie wiederum flohen aus Ägypten, um zu versuchen, der Armut zu entkommen. Sie brachen in ein Land auf, in dem das Erdöl über das Leben jedes Einzelnen bestimmte. Eines Tages würde man sie wieder nach Hause schicken, oder sie würden letztlich auf einem Flüchtlingsboot an der italienischen Küste stranden.
Die Schönheit der großen Pyramiden hatte Sharko zwar nicht gesehen, dafür aber die eines Volkes, dessen einziger Luxus letztlich seine Würde war. Als sein Flugzeug abhob, erinnerte er sich an den Scherz des koptischen Taxichauffeurs, der ihn zu seinem nächtlichen Rendezvous mit Nahed zur Kirche Santa Barbara gefahren hatte:
Drei Personen, ein Deutscher, ein Franzose und ein Ägypter, werden gefragt, welcher Nationalität Adam und Eva wohl gewesen seien. Der Deutsche antwortet: » Adam und Eva verbreiten das Flair von Gesundheit und Lebenshygiene, sie müssen Deutsche gewesen sein!« Der Franzose behauptet: » Adam und Eva haben bewunderungswürdige und erotische Körper, es können nur Franzosen gewesen sein!« Der Ägypter jedoch kommt zu dem Schluss: » Adam und Eva sind nackt wie Würmer, sie haben nicht einmal Geld, um sich Schuhe zu kaufen, und sind zudem davon überzeugt, im Paradies zu leben: Es können nur Ägypter gewesen sein.«
Nach einer Viertelstunde Flugzeit begann Sharko, in dem Buch über die kollektive Hysterie zu lesen. Wie Dr. Taha Abu Zeid ihm bereits kurz erläutert hatte, war dieses Phänomen durch alle Epochen, bei allen Völkern und in allen Religionen zu beobachten. Der Autor stützte sich auf Fotos, Zeugenaussagen und Interviews
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