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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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aufgeflogen, dass er kein Ticket hatte, und der Fahrer hat die Polizei gerufen. Gunnar hat ihnen erzählt, dass er zu dir wollte. Nach München.«
    Ich konnte hören, wie sie die Fassung verlor und wie im Hintergrund ihrer Seien-wir-doch-mal-vernünftig-Stimme Wut und Verzweiflung pulsierten.
    »Wie geht es Gunnar?«
    »Blendend. Ich habe ihn zur Rede gestellt, ich konnte einfach nicht anders. Und weißt du, was er gesagt hat? ›Tut mir leid, Liebes. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Vor allem, wo ich in München überhaupt niemanden kenne.«‹
    Ich dachte an die MRT-Bilder von Gunnars Gehirn, das mittlerweile einem Schweizer Käse glich, in den eine gierige Maus immer neue schöne Gedächtnislöcher biss. Sozusagen mit einem Mausklick war alles weg. Wieso Klick? Wer hatte das gesagt? Und wann? Egal. So war der Satz richtig. Und dann wusste ich es. Ich starrte auf das Telefon und widerstand dem Impuls, sofort aufzulegen.
    »Bist du noch dran?«
    »Ich komme, sobald ich kann!«, sagte ich. »Es tut mir leid, aber ich kann hier noch nicht weg.«
    »Ja, ich weiß«, sagte meine Mutter. »Ich schaff das schon. Ich bin ja erst siebzig. Soll ich dir was sagen: Alt werden ist nichts für Memmen!«
    Plötzlich war die Verbindung unterbrochen, und meine Erinnerungen überschlugen sich.
    Stell dir einfach vor, dass es jemandem gelingt, die verschiedenen Datennetze zusammenzuschalten.
    Helen saß mit untergeschlagenen Beinen in meinem Lieblingssessel und balancierte eine Tasse grünen Tee auf den Knien. Sie trug ein altes Hemd von mir und sah absolut hinreißend aus. Zierlich und ungeschminkt, schön und ungeduldig angesichts meiner Begriffsstutzigkeit.
    »Überall bist du datenmäßig erfasst. Meldebehörde, Standesamt, Finanzamt, deine Bank, Bundeswehr usw. usw., vielleicht sogar bei den Bullen, wer weiß? In wie vielen Computern in diesem Land bist du drin? Und alle sind auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden. Entweder Datenabgleich oder gleich vernetzt. Was meinst du? Was für Hackerqualitäten braucht man, um die Daten eines Normalbürgers aus allen Dateien und Datenbanken dieses Landes zu löschen? Mit einem Mausklick bist du weg.«
    »Das gibt’s schon als Film. Das Netz mit Sandra Bullock.«
    »Mag sein, aber überleg doch mal, wie es wäre, wenn man dich eines Tages löschen würde. Thomas Nyström? Who the fuck is Thomas Nyström? Geburtsurkunde? Negativ. Fester Wohnsitz? Nichts bekannt. Konten gelöscht, keine Kreditkarten, kein Doktortitel und kein Job. Du könntest deine Kollegen am Institut anbetteln, dass sie dich wiedererkennen. Wie sagt man so schön: Der Trend geht zum papierlosen Office. Aber nicht mit mir. Solange ich mir Papier leisten kann, werde ich eine hübsche kleine Akte anlegen.«
    Und das war exakt der Punkt. Wer immer in Helens Wohnung Material über ihre Arbeit gesucht und gefunden hatte, war davon ausgegangen, dass es elektronisch gespeichert war, aber ich wusste es besser. Ihre Festplatte zu löschen war ein netter Versuch gewesen. Aber nicht ausreichend. Bei Weitem nicht ausreichend, wenn man es mit einem Papiermenschen zu tun hatte.
    »Was meinst du, warum ich immer noch bei einer Zeitung arbeite und nicht für N-TV?«
    Helen war ständig am Computer gewesen und nervös, wenn sie mehr als einen halben Meter von ihrem Handy entfernt war, und dennoch hatte sie ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen die Errungenschaften der Informationstechnologie gehabt. Kinderhandel im Internet und der Überwachungsstaat per Computer waren die Anführer ihrer ganz persönlichen Albtraum-Hitliste gewesen, die sie pflegte und bei Bedarf aktualisierte.
    Es gab sie, die hübsche kleine Akte. Ich musste sie nur noch finden. In der Wohnung war sie nicht, aber Helen hatte schließlich einen Arbeitsplatz gehabt. Ein Stuhl, ein Schreibtisch und ein PC in einem Großraumbüro, nicht viel, aber immerhin etliche Möglichkeiten, etwas zu deponieren.
    Draußen war es mittlerweile vollständig hell. Meine Mutter hatte mich um sieben Uhr angerufen, und ich wusste, dass sie um diese Zeit schon seit zwei Stunden auf den Beinen war. Wie alle krankhaften Frühaufsteher erwartete sie das auch von anderen, aber diesmal war ich ihr dankbar. Sie hatte mich auf etwas gebracht, was vielleicht nicht schon alle wussten, die mit dieser Geschichte zu tun hatten.
    Ich ging duschen und frühstückte anschließend in einem kleinen Café an der Alster. Anschließend fuhr ich mit dem Taxi zum Redaktionsgebäude der

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