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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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schweigend.
    »Wie lange hast du das gemacht?«
    »Etwa fünfzehn Jahre. Mit dreißig habe ich aufgehört.«
    »Warum?«
    »Ich konnte die Verletzungen nicht mehr so gut wegstecken!«
    »Du hast doch gesagt, dieser Eiskanal ist nicht gefährlich.«
    »Nein, der Augsburger Eiskanal ist wahrscheinlich die sicherste Wildwasserbahn der Welt, weil es keine scharfen Felskanten oder Spalten gibt, aber im natürlichen Wildwasser gibt’s die halt. Im Laufe der Jahre kriegt man ganz schön was ab.«
    »Warst du gut?«
    »Ich war mal Vierter bei den Bayerischen Meisterschaften im Kanuslalom.«
    Anna pfiff anerkennend durch die Zähne.
    »Das ist gut zu wissen«, sagte sie lächelnd, »und im Übrigen habe ich einen Wahnsinnshunger.«
    Als wir nach Hamburg hineinfuhren, hielt sie an der ersten Pizzeria, die wir sahen. Es war ein altmodisches, leicht heruntergekommenes Lokal mit dem Capri-Charme der Sechzigerjahre. Fasziniert bestaunte ich bauchige Chiantiflaschen, das Fischernetz an der Decke und die blaustichigen Fotos von Rimini an den Wänden. Anna bestellte Spaghetti und Bier und sah mich anschließend über den Rand der Speisekarte nachdenklich an.
    »Habt ihr euch geliebt?«, fragte sie nach einer Weile.
    »Ich habe sie geliebt!«
    Anna legte die Speisekarte weg und begann, mit dem heißen Wachs der Tischkerze herumzuspielen.
    »Weißt du, sie hat für mich gesorgt, als unsere Eltern verunglückt sind, aber wir waren immer verschieden«, sagte sie, »Helen und ich. Sie schaffte es bis auf die Uni, und ich schaffte es, vier Wochen vor dem Abitur von der Schule zu fliegen. Ich hatte jede Menge Jungs, und Helen ließ sie reihenweise abblitzen. Als ich zwölf war, schrieb der Schulpsychologe unseren Eltern, ich wäre ›distanzlos‹. Vielleicht gar nicht so falsch, aber der Witz ist, dass Helen auch in diesem Punkt völlig anders war. Verstehst du, Helen war nicht einfach distanziert. Sie war »nähelos«, wenn es so ein Wort gäbe. Da war ein Raum in ihrem Kopf, den außer ihr niemand betreten durfte. Und an schlechten Tagen wurde dieser Raum aufgeblasen. Dann schien sie ein Schild auf der Stirn zu tragen, auf dem stand: Keep out and fuck off!.
    Ich glaube, dass sie dich auch geliebt hat. So gut sie es eben konnte.«
    »Für einen Punk gibst du eine gute Psychologin ab.«
    »Die Psychologie wird allgemein überschätzt.«
    Sie strahlte den alten Kellner an, der eine Riesenportion Spaghetti carbonara vor ihr abstellte und nach einem fassungslosen Blick auf ihre Irokesenbürste davonschlurfte.
    »Ihm gefiel dein Haarschnitt.«
    »War auch teuer«, sagte sie kauend.
    Ich sah ihr beim Essen zu und dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Und wie viel davon auch auf mich zutraf.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich schließlich.
    Anna schaufelte den Rest der Spaghetti in sich hinein und schien auf diese Frage gewartet zu haben.
    »Lass uns noch mal zusammen in die Wohnung gehen.«
    »Wir waren bereits zusammen in der Wohnung«, sagte ich und betrachtete meinen Arm.
    »Aber nur in der Küche. Lass uns die ganze Wohnung noch einmal zusammen anschauen. Vielleicht gibt es etwas, was wirnur zusammen wahrnehmen können. Bitte!«

Neun
    E
    s gab tatsächlich etwas. Ich konnte es riechen. Es war ein ganz schwacher Geruch in der trockenen Heizungsluft auszumachen, die in der leeren Wohnung förmlich zu stehen schien. Ein wunderbar widerwärtiges Aroma.
    Ich hatte einen fürchterlichen Entzug gehabt. Nachdem mein Verstand akzeptiert hatte, dass ich aufhören musste, leistete mein Körper erbitterten Widerstand. Er schwitzte und zitterte, bestreikte die Verdauung und weigerte sich zu schlafen. Und wenn er schlief, träumte er vom Marlboro-Country. Als er endlich aufgab, machte mein Verstand einen Rückzieher. Er führte mir vor Augen, wie viel Schönes in meinem Leben bislang mit dem Rauchen einer Zigarette verbunden war und was für einen blödsinnigen Verlust ich mir aufgehalst hatte. Und vor allem, wie schlecht ich jetzt denken konnte. Hatte nicht das Nikotin meine Synapsen immer zuverlässig auf Touren gebracht? Wie auch immer. Als ich mit allem durch war, war ich ein übellauniger, hypersensibler Exraucher mit einem erstklassigen Geruchssinn.
    Es war nicht so, dass in der Wohnung jemand geraucht hatte. Es war jemand da gewesen, der nach Rauch gerochen hatte. Nur ein wenig. Ein Hauch von Gauloises. Ich stand still in der Mitte von Helens Arbeitszimmer und beobachtete, wie Anna ziellos durch die Wohnung streifte und hin und wieder

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