Oelspur
und dementsprechend teuer. Leider war das Restaurant schon geschlossen. Anna hatte zwei nebeneinanderliegende Einzelzimmer gebucht, und wir waren beide so müde, dass wir beschlossen, sofort schlafen zu gehen. Die letzte Nacht in der Koje hatte meinem Rücken übel mitgespielt, aber das komfortable Hotelbett, in dem ich mich nach einer heißen Dusche verkroch, wirkte wahre Wunder.
Als ich mich am nächsten Morgen mit Anna zum Frühstück traf, hatte ich acht Stunden traumlosen Tiefschlaf und eine ausgiebige Rasur hinter mir und fühlte mich, von dem ziehenden Schmerz in meinen Hoden einmal abgesehen, ausgezeichnet. Eine hell strahlende Frühlingssonne tauchte den Frühstücksraum des Hotels in ein warmes Licht, und auch Anna sah deutlich besser aus als am Vortag. Die dunklen Schatten um die Augen waren verschwunden, und die extreme Blässe war von einer nahezu gesunden Gesichtsfarbe abgelöst worden. Beim Packen für die Reise hatte sie sich ohne große Umstände aus Helens Kleiderschrank bedient und ihr gesamtes Punker-Outfit in die Mülltonne gestopft. Helens Nobelklamotten waren ihr geringfügig zu groß, was aber für einen gewissen lässigen Chic sorgte, und als sie mager und kurz geschoren hereinrauschte, sah sie aus wie ein extravagantes englisches Model. Lächelnd registrierte sie das Drehen der Köpfe und die bewundernden bis neidischen Blicke und setzte sich schwungvoll zu mir an den Tisch.
»Schön hier«, sagte sie.
Dreiundzwanzig
N
ach dem Frühstück sahen wir uns die Stadt an, und die war eine Überraschung. Ein Taxi brachte uns über den Hafenkanal und setzte uns in der Innenstadt ab. Nach den Schilderungen Ole Petersens hatte ich so eine Art lettisches Duisburg-Ruhrort erwartet. Stattdessen präsentierte sich die ehemalige ökologische Zeitbombe des Baltikums als ein aufgeräumtes, durchaus angenehmes Städtchen mit nordischosteuropäischem Charme. Wir schlenderten wie Touristen über die Promenade der Ostas iela in Richtung Burg des Livländischen Ordens, beobachteten die in den Hafen einlaufenden Schiffe und bestaunten Jurakmens, den riesigen Gedenkstein, der anlässlich der Meereskanalvertiefung des Freihafens von Ventspils aufgestellt worden war. Auf einer Parkbank saß lässig die lebensgroße Bronzeskulptur von Krisjanis Valdemars, dem Begründer der lettischen Seefahrt, und schaute sich an, was seine Nachfahren aus dem Hafen gemacht hatten. Anna setzte sich neben ihn, legte einen Arm um seine Schulter und kreischte in einem überkandidelten amerikanischen Tonfall:
»Thoooomas, take a picture, pleeease!«
Aber ich hatte keine Kamera, und wir waren keine Touristen, und mit dieser Erkenntnis ging dem übermütigen Höhenflug die Luft aus. Anna quittierte meinen abgenervten Gesichtsausdruck mit einer Grimasse, war aber offenbar entschlossen, sich die Laune nicht verderben zu lassen. Sie hakte sich bei mir ein und zog mich einfach weiter.
»Komm, lass uns wenigstens die Burg ansehen«, sagte sie. »Nur diesen Vormittag … weißt du was? Seit dem Frühstück habe ich mich nicht ein einziges Mal umgeschaut!«
Ich schon, aber das sagte ich ihr nicht, und ich hatte auch niemanden gesehen, den ich mit den Leuten auf dem Schiff in Verbindung bringen konnte. Weil es auf dem Weg lag, bewunderten wir die fantastisch restaurierte Jugendstilfassade des ehemaligen Hotels Royal, in dem jetzt die Freihafenverwaltung von Ventspils untergebracht war, und dann lag die Burg vor uns.
Es handelte sich um eine kompakte Anlage, die mit einem nicht sehr hohen, quadratischen Turm eher einem Kloster als einer Burg glich. Als wir mit einer Gruppe von Touristen durch den Torbogen hineingingen, lief Anna zur Hochform auf.
»Hier also haben wir die Burg des Livländischen Ordens, die älteste bis heute erhaltene mittelalterliche Festung in Lettland. Sie wurde erstmalig im Jahre 1290 urkundlich erwähnt, dieses Jahr gilt auch als Gründungsjahr der Stadt Ventspils. Im Jahre 1995 wurde mit der Restaurierung der Burg begonnen. Von außen wurde sie im Stil des 19. Jahrhunderts rekonstruiert und ist jetzt das Stadtmuseum Ventspils. Dank der Ausstattung mit modernster, multimedialer Technik zählt es zu den fortschrittlichsten Museen im …«
»Danke«, sagte ich, »das reicht. Mir ist nicht nach Fremdenführung. Wo hast du denn das alles her?«
»Wenn ich irgendwo hinfahre, informiere ich mich vorher«, sagte Anna schnippisch und streckte mir ihren Reiseführer entgegen.
»Tut mir leid, aber deswegen sind wir nicht
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