Oelspur
hier.«
»Ich weiß, aber vielleicht kannst du deine Paranoia mal für eine halbe Stunde beiseitelassen!«
»Nein!«
Anna sah mich resigniert an und ließ einen langen Seufzer hören.
»Okay, also keine Führung. Hast du Hunger?«
Ich nickte.
»Na, prima«, sagte sie und verfiel demonstrativ wieder in ihren Touristenführer-Tonfall, »linker Hand sehen Sie eine Treppe, die zur neu eröffneten Burgschenke im Mittelalterstil führt. Sie nennt sich ›Melnais sivens‹, was auf Deutsch ›Schwarzes Ferkel‹ heißt, und hält deftige Spezialitäten für Sie bereit.«
Die Burgschenke war eine Art lang gestreckter »Rittersaal«, wo an langen Holztischen um diese Zeit nur wenige Gäste saßen. Die Kellnerin sprach ein passables Englisch, und so bestellten wir problemlos Gemüsesuppe mit dunklem Brot, eine Platte mit Sauerkraut, Würsten und verschiedenen Koteletts sowie zwei Krüge »Kimmel«, das von Annas Reiseführer als bestes Bier Lettlands gerühmt wurde. Während die Suppe geradezu sensationell fade schmeckte, war das Sauerkraut sehr pikant gewürzt und das Bier ausgezeichnet. Anna schaufelte mit dem üblichen Appetit Sauerkraut und Würstchen in sich hinein, nagte die Koteletts sauber ab und leerte mit zufriedenem Grinsen ihren zweiten Bierkrug. Dann rülpste sie dezent und sagte:
»Also gut, wo ist der Zettel?«
Ich suchte aus meiner Brieftasche das Stück Papier heraus, auf dem Ole Petersen den Namen des Mannes notiert hatte, mit dem wir in Ventspils sprechen sollten, und reichte ihn Anna hinüber.
»Sergej Bakarov, Kapteinu iela Nr. 7«, sagte sie und holte ihren Stadtplan heraus. »Das ist in Ostgals.«
»Was heißt das?«
»Na ja, ich habe mich ein bisschen schlaugemacht vorher.
Ostgals ist ein Hafenviertel der besonderen Art. So eine Art Fischerdorf in der Stadt. Niedrige Holzhäuser, Kopfsteinpflaster, einfache Leute. Es entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die russische Regierung wollte damals die Sandverschüttung der Stadt verhindern und forderte die Bauern der Region auf, sich im Dünengebiet niederzulassen. Denen blieb nichts anderes übrig. Heute steht das ganze Viertel unter Denkmalschutz.«
»Kommen wir da zu Fuß hin?«
»Klar. Ich würde sagen: eine gute halbe Stunde, vielleicht ein bisschen mehr!«
Also wanderten wir wie Bilderbuchtouristen die Hafenpromenade entlang, passierten einen monumentalen, mit einem riesigen Anker drapierten Felsblock, den Anna mir als Seefahrer- und Fischerdenkmal vorstellte (und zu dem sie gerne noch etwas mehr gesagt hätte), und landeten nach kaum vierzig Minuten unversehens im 19. Jahrhundert.
Ostgals hatte in der Tat nichts zu tun mit dem herausgeputzten Charme und der baltischen Aufbruchsstimmung, die einen im Rest von Ventspils förmlich ansprangen. Das Viertel war ein einziges Gewirr von schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen und Gassen, die an vielen Stellen kaum zwei Autos nebeneinander Platz boten. Niedrige, braune, oft von kleinen Gärten umrahmte Holzhäuser säumten die Straßen, und wie um das Klischee perfekt zu machen, kam uns ein Pferdefuhrwerk entgegen. Aus den Fenstern blickten uns dicke alte Frauen mit wollenen Kopftüchern nach, und das ganze Viertel atmete eine sehr osteuropäische Atmosphäre von Romantik, Verfall und Armut. Es war sehr ruhig. Kein Verkehrslärm, keine lauten Radios, kaum spielende Kinder.
»Ob die hier Fernsehen haben?«, fragte Anna, als wir in die Kapteinu iela einbogen.
Ich zuckte die Achseln. Das Haus Nr. 7 sah aus wie alle anderen Häuser in der Straße, aber zumindest gab es an dem morschen Gartenzaun ein Schild, das darauf hinwies, dass hier Sergej Bakarov wohnte. Anna suchte vergebens nach einer Klingel und klopfte einfach an die Tür.
Es dauerte einen Augenblick, dann wurde die Tür geöffnet, und wir traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Frau im Türrahmen wirkte in dem anachronistischen Ambiente so vollständig deplatziert wie Bill Gates in einem Tante-Emma-Laden.
Sie war groß, schlank und sehr schön. Schulterlange dunkle Haare, schwarz glänzend wie Rabenfedern, umrahmten ein schmales Gesicht mit grünen Augen hinter einer randlosen Designerbrille. Sie mochte vielleicht fünfunddreißig Jahre alt sein und war gekleidet wie die Chefsekretärin einer Vorstandsetage. Teures Nadelstreifensakko, dunkler, nicht zu kurzer Rock, akkurat gebügelte weiße Bluse. Sie trug wenig Schmuck, hatte ein dezentes Make-up aufgelegt und lächelte uns freundlich an.
»Ja, bitte?«, sagte sie
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