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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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einem Reiseführer über das Baltikum, dann schlenderten wir stundenlang auf dem Schiff herum, beobachteten die Fahrgäste und stritten uns. Schließlich lieh Anna sich völlig entnervt fünfzig Euro von mir und verschwand in dem Saal mit den Spielautomaten. Am späten Nachmittag trafen wir uns im Bordrestaurant.
    »Ich bin sicher, dass sie uns beobachten«, sagte Anna, »ich spür es auf der Haut!«
    »Ja, und wir müssen zu einer Entscheidung kommen. Wir sind diesen Leuten nicht gewachsen. Ich will, dass wir nach Deutschland zurückfahren. Schluss, aus, Ende!«
    Anna schüttelte wütend den Kopf. Sie war blass, übernächtigt und stur. Ich war mit ihr auf dem Oberdeck gewesen und hatte ihr die Tür gezeigt, hinter der ich am Vorabend verschwunden war. Es war überraschend schwierig gewesen, sie überhaupt wiederzufinden. Jetzt war sie verschlossen und sah völlig unscheinbar aus. Obwohl es ursprünglich nicht meine Absicht gewesen war, hatte ich Anna dann doch detailliert von den Drohungen erzählt. Sie hatte geweint und auf ihren Nägeln herumgebissen und ihre Wut und Angst schließlich gegen mich gerichtet.
    »Weißt du, was ich glaube? Dass der Mann, der dich gestern angegriffen hat, Helens Mörder ist. Arrogant, kaltblütig und mit medizinischen Kenntnissen. Und das weißt du auch! Und jetzt willst du einfach den Schwanz einziehen, nur weil man dich getreten hat? Zurück nach München in dein dämliches Institut und einmal die Woche Helens Bild auf deinem Schreibtisch abstauben! Ist es das, was du willst?«
    Sie hatte mich einfach stehen lassen und mir Zeit gegeben, den Volltreffer zu verdauen. Bis zum Nachmittag hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Jetzt war sie ruhiger, aber nicht weniger wütend und hatte offenbar für sich einen Entschluss gefasst.
    »Ich mache allein weiter. Besorg dir in Riga einen Flug nach München, dann bist du in fünf Stunden zu Hause und kannst die Sache abhaken!«
    Ich schwieg.
    Anna starrte mich an, zuckte hilflos mit den Achseln und fing wieder an zu weinen.
    »Scheiße, es tut mir leid. Ich wollte das nicht sagen. Aber ich kann nicht nach Hause fahren!«
    Ich sah durch die Panoramascheiben des Bordrestaurants auf die bleigraue Ostsee hinaus und lauschte auf Helens Stimme in meinem Kopf, aber da war nichts. Absolute Funkstille. Sie wollte es mir also nicht selbst sagen. Und ich hatte mich doch tatsächlich gefragt, warum Helen mich nicht um Hilfe gebeten hatte. Offenbar hatte sie mich richtig eingeschätzt.
    Vielleicht auch nicht.
    »Gut«, sagte ich, »folgender Vorschlag: Wir gehen noch in Ventspils zu der Adresse, die uns Petersen gegeben hat, und versuchen, jemanden zu finden, der Krisjanis Udris heißt. Was immer wir herausfinden, werden wir der Polizei oder den zuständigen Behörden übergeben. Das heißt, ab da ist Schluss. Wir werden den Kopf einziehen und die Sache der Polizei überlassen!«
    »Die Polizei hat ›die Sache‹ abgehakt. Schon vergessen?«
    »Ja, aber auch deshalb, weil wir Geldorf ein paar Dinge verschwiegen haben. Wir müssen alle Karten auf den Tisch legen.«
    »Traust du ihm?«
    Ich nickte ohne Überzeugung.
    »Okay! Wir machen es so, wie du gesagt hast.«
    Anna seufzte. Dann fing sie unvermittelt an zu grinsen.
    »Ich muss dir noch was erzählen. Ich habe nur eine Pistole ins Hafenbecken geworfen. Die dickere. Die kleine habe ich noch.«
    Ich musste an Annas faszinierten Gesichtsausdruck denken, als sie an jenem Abend in Helens Wohnung die kleine Pistole aus der Reisetasche gezogen hatte.
    »Du bist völlig übergeschnappt! Hast du nicht selbst gesagt, du kannst und willst nicht schießen?«
    »Ja«, sagte Anna und klopfte leicht mit der Hand auf die Außentasche ihrer Regenjacke, »ich habe meine Meinung geändert. Fällt doch kaum auf das Ding.«
    Den Rest der Fahrt saßen wir herum und schwiegen uns an. Pünktlich gegen halb zehn Uhr legte die URD im Hafen von Ventspils an. Das Auschecken verlief zügig, und die Einreiseformalitäten waren mehr als lässig. In strömendem Regen stiegen wir in eines der in langer Reihe wartenden Taxis.
    »Hotel Vilnis, Talsu iela Nr. 5«, sagte Anna, als der Fahrer den alten Benz in den noch immer dicht fließenden Verkehr einfädelte. Der grinste und gab ein anerkennendes Schnalzen von sich.
    »Gutes Hotel«, sagte er mit einem schweren russischen Akzent.
    Von der Stadt selbst war bei Dunkelheit und Regen nicht viel zu sehen, aber das Hotel war wirklich gut. Nicht zu groß, absolut westlicher Standard

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