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Oelspur

Titel: Oelspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Erler
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auf Russisch.
    »Tut mir leid«, sagte Anna, »wir können weder Lettisch noch Russisch. Sprechen Sie Englisch oder Deutsch? Oder vielleicht Schwedisch?«
    »Wir können Deutsch sprechen«, sagte die Frau mit einem leichten osteuropäischen Akzent, »ich hatte eine deutsche Großmutter.«
    Anna war sichtlich erleichtert.
    »Wir hätten gerne mit Sergej Bakarov gesprochen, wenn das möglich ist.«
    Die Frau runzelte die Stirn, schien offenbar über eine Antwort auf Deutsch nachzudenken und sagte dann einfach:
    »Warum?«
    »Wir wollen ihn grüßen von einem alten Freund aus Hamburg und würden ihm gerne ein paar Fragen stellen.«
    »Sie können ihn besuchen«, sagte die Frau, »aber keine Fragen stellen!«
    Sie winkte uns herein, und wir folgten ihr durch einen kurzen muffigen Flur in eine Art große Wohnstube, von der lediglich noch eine Tür in einen winzigen Schlafraum abging. Links neben der Tür gab es eine Kochnische mit Spüle und einem elektrischen Zweiplattenkocher. Der Raum war sehr sauber und mit alten Bauernmöbeln durchaus behaglich eingerichtet, aber in der Luft hing ein merkwürdiger Krankenhausgeruch, der sich mit dem Aroma eines sonntäglichen Schweinebratens verband. Dicht am Fenster, im Licht der durch die Spitzengardinen fallenden Mittagssonne, saß ein alter Mann in einem vorsintflutlichen Lehnstuhl. Seine spärlichen, dünnen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, aber er war sorgfältig rasiert und offenbar gut gepflegt. Hinter einer Brille, die kaum jünger war als der Ohrensessel, blinzelten lebhafte graue Augen, aber sein Mund war schief, und ich sah auf einen Blick, warum wir ihm keine Fragen stellen konnten. Nun ja, fragen vielleicht, aber er konnte nicht mehr antworten. Sein rechter Arm war steif und angewinkelt, die Hand auf eine typische Weise nach innen gedreht, die Finger weiß und ineinander verkrampft. Der rechte Fuß steckte in einem riesigen orthopädischen Schuh.
    »Stroke«, sagte die junge Frau hinter uns, der wohl das schöne deutsche Wort »Schlaganfall« nicht einfiel, »he suffered a stroke.«
    Anna ging auf den Sessel zu, ergriff wie selbstverständlich die linke Hand des Alten und sagte:
    »Ich bin Anna, und das ist Thomas. Wie geht es Ihnen? Wir sollen Sie grüßen von Ole Petersen aus Hamburg!«
    Keine Ahnung, was der alte Mann wirklich verstand, aber bei den Worten »Petersen« und »Hamburg« ging eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Seine Gestalt im Lehnstuhl schien sich zu straffen, seine Augen begannen tatsächlich zu funkeln, und sein schiefer Mund brachte mit nur einem Mundwinkel ein fröhliches Grinsen zustande, was auch der Frau hinter uns zu gefallen schien.
    »Ich bin Elena Bakarova. Das da ist mein Schwiegervater. Willkommen in seinem Haus«, sagte sie, führte ihn an den Esstisch und winkte uns, Platz zu nehmen. Dann brachte sie schwarzen Tee mit Zucker und Sahne, eine Schale mit Gebäck und einen großen unlinierten Schreibblock mit einem Kugelschreiber, den sie vor dem Alten auf den Tisch legte.
    »Versteht er, was wir sagen?«, fragte Anna.
    »Ich spreche mit ihm Russisch. Da versteht er das meiste. Von seinem Englisch ist nicht mehr viel übrig, und Lettisch hat er nie richtig gelernt«, sagte Elena. »Ich sorge für ihn, so gut ich kann. Mein Mann war als Ingenieur bei der Pipeline, er ist vor fünf Jahren gestorben.«
    »Was hat Ihr Schwiegervater früher gemacht?«
    »Er war ein leitender Angestellter bei der Freihafenverwaltung bis 1991. Hauptsächlich zuständig für die Hafenstaatkontrollen von großen Schiffen. Dann hat man ihn unter einem Vorwand entlassen. Nach der Unabhängigkeit waren wir Russen nur noch Bürger zweiter Klasse. Russisch war verpönt, und für jeden besseren Job musste man fließend Lettisch sprechen. Mein Schwiegervater hat das nie verwinden können. Vor einem Jahr ist er krank geworden.«
    »Hat er nach seiner Entlassung noch Kontakte zur Hafenverwaltung oder alten Kollegen gehabt?«, fragte ich.
    Elena nickte.
    »Jeden Tag ist er am Hafen gewesen. Seine Kollegen haben ihn sehr geschätzt, auch die lettischen. Noch nach Jahren sind sie vorbeigekommen und haben ihn um Rat gefragt, wenn sie mal wieder an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Wissen Sie nicht, was hier früher los war? Die Moskauer Zentralregierung hatte Ventspils zur Jauchegrube des Baltikums gemacht. Und die russischen Bürger hier waren denen genauso egal wie die lettischen. In den Sechzigerjahren wurde die Pipeline

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